Jahre nach diesem Vorfall - Odo wurde bereits in einem Kloster zum Priester ausgebildet - verschlägt es den jungen Mann in das Kloster Sankt Gallen, wo er das "Buch der Sünden" stiehlt. In diesem Buch soll geschrieben stehen, wie man die Sünden in ihrer Vollkommenheit erkennt und vernichtet. Der bedauernswerte Odo wandelt sich vom Opfer zu Täter. Er stellt sein Leben allen christlichen Geboten zum Trotz unter die Aufgabe, die Sünden in ihrer menschlichen Gestalt ausfindig zu machen und die Dämonen zu vernichten, um damit das Gottesgericht einzuleiten. In der siebenten Sünde, dem Dämon Superbia, glaubt er Ragnar, den Anführer der Normannen, die inzwischen halb Europa in Angst und Schrecken versetzt haben, erkannt zu haben.
Er reist nach Haithabu, in dem er das Babylon des Nordens vermutet, wo er die Prophezeiung erfüllen möchte. In der aufblühenden Stadt, dem Tor zum Norden, lebt auch der Schmied Einar mit seiner Frau und seinem Sohn Helgi. Der Priester ist dort nicht gern gesehen, da die Dänen ihre eigenen nordischen Götter anbeten, doch man lässt ihn beim Neubau der Kirche vorerst gewähren, auch wenn er Männer abzieht, die der Stammesfürst zur Kriegsvorbereitung benötigt. Während also Odo die Schwelle vom Glauben zum Fanatismus überschreitet und genau den brutalen Anweisung zur Vernichtung der Sünden folgt, wobei er einen Menschen nach dem anderen auf bestialische Weise abschlachtet, lenkt der Autor nun den Fokus auf den Sohn des Schmiedes, welcher sich in die Sklavin des größten Konkurrenten seines Vaters verliebt. Aber Helgi gerät in Odos Visier, als der Priester den Verdacht schöpft, dass der junge Däne die aktuelle Verkörperung der siebenten Sünde ist.
Dieser ist jedoch vollauf damit beschäftigt, die schöne Sklavin zu retten und in ihre Heimat zurückzubringen, wo diese als Tochter des Wojwoden der Siedlung Ralsvik ihre Stellung als Anführerin wiedererlangt und in die Heirat mit Helgi einwilligt. Bevor die beiden jedoch glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage leben können, müssen sie sich erneut gegen die räuberischen Dänen und nicht zuletzt gegen den wahnsinnigen Odo wehren.
Axel Meyer hat für seinen historischen Roman umfangreiche Recherche betrieben. Daher kann man den Protagonisten leicht durch die von Dreck gesäumten Nebenstraßen Paris' über die kontrastierend angelegte geistige und geistliche Hochburg des Klosters Sankt Gallen ins heillos übervölkerte, nach Fisch und Exkrement stinkende Haithabu mit seinen heidnischen Bewohnern folgen. Dagegen erscheint das Land der Ranen, die Insel Rügen, wie das unberührte Paradies auf Erden. Auch die barbarisch anmutenden Bräuche der Dänen, ihr wildes kultisches Leben und ihre Aggressivität sind sehr anschaulich dargestellt; ebenso die gewalttätige Umsetzung des Buches der Sünden, die Odo als Christen auf die gleiche Stufe mit den von ihm so verachteten Heiden stellt. Dagegen zeigen die zarten Gefühle, die Helgi der Sklavin entgegenbringt, diesen von einer Seite, die für seine Lebensumstände fast schon zu weich erscheint.
Meyer zieht in seinem Erstlingswerk alle Register, um Helgi die Sympathien der Leser zu sichern. Er rettet nicht nur mehrmals das Leben seiner Geliebten, er gibt auch seine Heimat für das Land der Ranen auf, wobei er ebenfalls sein Leben riskiert. Er erweist sich als mutig und willensstark, wenn er mit zerschlissenen Händen und halbtot durch eine Vergiftung über das Meer nach Rügen rudert, um sein Versprechen zu erfüllen. Aber so richtig kann man sich unter der Bezeichnung Helgi keinen blonden, muskulösen und schwertbewehrten Hühnen vorstellen, sondern denkt eher an einen Freund von Wicki, dem Wikinger, ungefähr in dessen Alter. Da fragt man sich, warum niemand den Autor von dieser Namenswahl abgehalten hat.
Mit Teska der Sklavin stellt Meyer Helgi eine starke Frau zur Seite, die von ihrem Vater alles gelernt hat, was ein Sohn hätte können müssen, wenn er einen gehabt hätte. Ihr unbändiger Überlebenswille und ihr kluges Vorgehen bei der Rückerlangung ihrer Position lassen Helgi trotz seiner Leistungen etwas blass aussehen. Odlo wird in seiner Besessenheit plastisch und glaubhaft geschildert. Sein Kindheitstrauma steht dem Leser zwar immer vor Augen, aber die kaltblütige Vorgehensweise und die Konsequenz, mit der er Verbrechen und körperliche Strapazen auf sich nimmt, um sein Ziel im Namen Gottes zu erreichen, wirken wahrhaft beängstigend.
Abgesehen von diesen drei Figuren beleben weitere liebevoll ausgearbeitete Nebenfiguren den Roman. Der Zauberer der Siedlung Ralsvik haucht dem Roman als promiskuitive Plaudertasche Witz ein. Figuren wie Helgis hart arbeitender Vater oder seine besonnene Ziehmutter verkörpern abseits von allen heroischen oder geisteskranken Figuren etwas Normalität und sind dem Leser näher als die Haupthelden des Romans. Natürlich - so viel sei noch verraten - gibt Odo seine Pläne nach Helgis und Teskas Flucht aus Haithabu nicht auf. Somit bleibt "Das Buch der Sünden" bis zur letzten Seite spannend und zeigt, dass der erste Preis beim historischen Romanwettbewerb des rororo-Verlags verdient verdient an Axel Meyer vergeben wurde.
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