Erzählen um des Erzählens Willen (Lebert, Benjamin: Crazy, Kiepenheuer und Witsch, Köln, 1999, 175 S.) Benjamin Leberts gefeierter Debutroman "Crazy" zeigt eine Welt aus Cliquenroutine, Hobbyphilosophie und Pubertätsproblemen und macht deutlich, daß Literatur zu einem Lifestyle-Produkt der Massenkultur wird. |
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Benjamin Lebert ist 16 Jahre alt, als ihn seine Eltern in das Internat Schloß Neuseelen schicken. Nach mehreren Schulwechseln soll er dort nun endlich die achte Klasse schaffen. Trotz eines Halbseitenspasmus' - Benjamins linke Körperhälfte ist teilweise gelähmt - wird er problemlos in die Clique um Janosch aufgenommen und ist bei allen Unternehmungen dabei. Den Auftakt macht ein Besuch in der Sexualberatungsstelle, in der Janosch vor einer "Sexualtunte" sein erfundenes Sexualleben ausbreitet und sich mit der Clique die Belehrungen dazu anhört. Ein nächtlicher Ausflug in den Mädchenflügel des Internats beweist später, daß Benjamin "zum Ficken" nicht sein "gottverdamtes linkes Bein" sondern nur genügend Alkohol und ein Mädchen wie Marie braucht. Das dritte große Abenteuer besteht darin, aus dem Internat auszureißen, nach München zu fahren und ein Striplokal zu besuchen. Wen überrascht es, wenn angesichts solcher Präferenzen der angestrebte schulische Abschluß erneut nicht erreicht wird. Wenigstens war alles "schon irgendwie crazy".
Benjamin Lebert schreibt seinen autobiographischen Debutroman, der aus aneinandergereiten Prosaskizzen besteht, mit 17 Jahren. Angesichts dieser Tatsache verwundert es nicht, daß sich die Wahrnehmung des Autors auf einen Mix aus pubertären Philosophien über das Leben, Sex und Gott beschränkt. Die Freunde gleichen altbekannten Stereoptypen. Es gibt den bewundernswerten Anführer Janosch, den dicken Felix, den geheimnisvollen Einzelgänger Troy und den weiblich wirkenden Typ des Florian. Auch das Problem "Eltern im Scheidungsprozess" ist weder neu noch neuartig aufgearbeitet. Die einzige Besonderheit an diesem Roman ist Benjamins Behinderung. Glücklicherweise spielt sie für das Handlungsgeschehen nur eine untergeordnete Rolle. Die Freunde nehmen seine Behinderung als gegeben und helfen ihm wenn nötig ohne, daß es Mitleidsszenen gäbe. Somit wird der Roman vor einem Abgleiten ins Melodramatische bewahrt. Ebenfalls mit Rücksicht auf die Jugend Leberts könnte man seinen Stil "schlicht" nennen. Doch spätestens nach 10 Seiten kurzer Sätze und Satzfragmente, fragt man sich, ob der Stil wirklich schlicht und originell oder der Autor der deutschen Gramatik nicht mächtig ist. Der Wille zum Erzählen macht noch keinen Erzähler. Dazu gehört ein gewisses Maß an Erfahrung und Wissen. Allzuleicht wird altkluges Raisonieren mit tiefsinniger Wahrnehmung verwechselt: "Weißt Du, in deiner Welt gibt es so viele Dinge, die Dich umbringen wollen. Sei es die Trennung deiner Eltern. Das Internat. Andere Typen. Versuch dich nicht selber umzubringen! Das wäre schade, weißt du!" Doch eines macht "Crazy" und das plötzliche Ausrufen Leberts zum "Genie" durch die SZ und FAZ ganz deutlich: Literatur und Massenkultur gehen heute Hand in Hand. "Laß uns einfach lesen. Aus Freude am Lesen. Und aus Freude am Verstehen. Und laß uns nicht darüber nachdenken, ob es Literatur ist oder nicht. Das können andere tun. Wenn es tatsächlich Literatur ist, dann umso besser. Wenn nicht, dann ist es auch scheißegal." erfährt man bei Lebert. Seine Inszenierung als genialer und von herzerfrischender Einfachheit geprägter Jungautor zeigt eindrucksvoll, daß sich das Literaturverständnis und die Anforderungen an einen Schriftsteller gewandelt haben. Der Autor ist heute Entertainer. Seinem Talent gemäß erzählt er, was er zu erzählen hat. Wenn er das wie Benjamin Lebert aus einer neuen Perspektive heraus, mit Humor sowie viel Offenheit macht, sind ihm Popularität und hohe Verkaufszahlen sicher. |
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