eine kriminalistisch, satirische Westernstory aus europäischen Breiten

Es war ein wundervoller Tag in Dodge City - eigentlich regnete es. Aber Geschichten, die mit „es war ein wundervoller Tag in...” beginnen, fangen einfach sympathischer an.

Also es regnete. Doch für eine Person in jener kleinen Stadt mit ihren vielen Augen und Ohren war dieser Tag trotz des Regens ein wundervoller Tag. Diese Person hinkte soeben über den Marktplatz.
„Klack, klack, klack” klopfte ein Holzbein auf das Marktplatzpflaster. Der Wind kam von Süden her. Deshalb war es ziemlich warm. Eine kleine, dicke Frau am Nordtor hörte das vom Wind getragene „klack, klack, klack” des Holzbeins und rief: „Hey, Leute! Old Willy will wieder die Bank überfallen!” und wischte sich den Schweiß von der Stirn, denn richtig, die besagte Person mit dem Holzbein war der verwitwete Rentner Old Willy , der nur in die Stadt kam, um die Bank von Dodge City zu überfallen. Das tat er laut Statistik des hiesigen Sheriffs 12,243 mal pro Jahr (man könnte auch sagen: ungefähr einmal im Monat).
Heute nun war es wieder soweit. Old Willy hinkte über den Marktplatz und die kleine, dicke Frau am Nordtor schrie hysterisch, daß er die Bank überfallen würde. Gut, daß Old Willy schon ziemlich taub war, sonst hätte er vielleicht gemerkt, daß man seinen Plan längst entdeckt hatte und die ganze Aktion abgebrochen. So jedoch hinkte er unbeirrt zur Bank hinüber, wo der Kassierer soeben die Geldbestände im Safe sicherte. Denn natürlich hatte man auch hier das „klack, klack, klack” des Holzbeins gehört und wartete bereits darauf, daß Old Willy eintreten würde.
Das tat er dann auch. Laut krachte seine Hand auf die Türklinke. Anschließend stieß er die leicht geöffnete Tür mit seinem Holzbein auf, daß heißt, er wollte sie damit aufstoßen, aber dummerweise stieß er mit soviel Kraft, wie man ihm gar nicht zugetraut hätte, daß sein Holzbein in der etwas maroden Tür steckenblieb, was für einige Erheiterung sorgte. Der einzige im Raum, der nicht lachte, war der Kassierer, denn noch während Old Willy versuchte von der Tür freizukommen, richtete er seine Winchester auf den Mann, welcher, der Situation angemessen, einen schwarzen Anzug trug.
Doch trotz Anzug und Gefahr behielt der Kassierer einen kühlen Kopf und meinte floskelhaft höflich: „Was wünschen Sie, bitte?”
Old Willy fragte zuerst sich selbst und danach den Mann in schwarz: „Können Sie - Ja, er sagte „Sie”, denn Old Willy war mindestens ein ebenso höflicher Mensch. - nicht ein mal, ein einziges mal nur etwas anderes zu mir sagen?”
Der Kassierer war nun doch einigermaßen verwirrt. Sonst hatte der alte Rentner nur gekrächzt: „Kohle her, Mann, sonst erlebst Du den nächsten Sonnenuntergang nicht mehr!” Daraufhin hatte der Kassierer ihm immer einen Betrag in Höhe der ihm gesetzlich zustehenden Rente - und das war in seinen Augen wirklich nicht zu wenig - gegeben, worauf Old Willy stets sowohl die Bank als auch die Stadt zufrieden verlassen hatte.
Aber heute lag etwas in der Luft, und daran war nicht nur der Abwasserrohrbruch, in der dritten Querstraße zur Ost-West-Achse schuld. Und der Mann in schwarz, der übrigens hinter einem Schalter stand, womit wir ihn zur Abwechslung auch „der Mann hinter dem Schalter” nennen können, wußte: Irgend etwas war nicht wie sonst. Schon bald wurde ihm deutlich bewußt, was diese irgend etwas war - die Winchester! Old Willy war zum ersten mal in seiner Verbrecherlaufbahn bewaffnet.
Noch bevor er den Gedanken zu Ende denken konnte, hörte man einen ohrenbetäubenden Knall durch die Stadt hallen. Der Kassierer konnte den Hall selbstverständlich nicht mehr hören. Er hatte in dieser für ihn ungewöhnlich schwierigen Situation den Kopf verloren; und zwar gleich zwei mal. Zuerst hatte er wissend gegrinst (Solche Leute mochte Old Willy gar nicht!) und die Verantwortung für das zweite mal trug die Winchester. Als sich der Rauch endlich verzogen hatte, bot sich den Beobachtern ein grausiges Bild: Der kopflose Kassierer lehnte an einer rotgesprenkelten Wand. Neben ihm stand Old Willy. Mit mitleidigem Blick wühlte er in den Jackentaschen des schwarzen Anzugs des Ex-Kassierers dieser Bank. Spätestens jetzt wird die geneigte Leserschaft mir glauben müssen, daß ich mit der Behauptung, der Anzug wäre der Situation angemessen, recht hatte.
Mit dem Schlüssel, den er fand, öffnete er den Safe. Das sah aber bereits niemand mehr, weil alle soeben noch lebend anwesenden Personen den Raum fluchtartig verlassen hatten. Old Willy nahm bis auf einen geringen Rest - er dachte vermutlich an die Beerdigungskosten für den Mann im schwarzroten Anzug - das gesamte Geld heraus. Dann verließ er ruhig die Bank, schloß ein Auto kurz, nahm die Holzbeinatrappe ab und brauste in Richtung Grenze davon.
Man munkelt in Dodge City, daß sich Old Willy - wenn denn Old Willy sein wirklicher Name war - nach Kalifornien absetzte, wo er nun mit wenigbekleideten Schönheiten Nächte lang Beachparties feiert. Es wird weiterhin hinter vorgehaltener Hand behauptet, der Kassierer sei ein intergalaktischer Spion gewesen, und Old Willy hätte vom FBI...oder CIA...oder KGB...oder was auch immer den Auftrag gehabt, diesen Spion zu beseitigen, was aber nicht erklärt, warum er das Geld nahm, und warum die Blutspritzer auf der Wand bei genauerem Hinsehen die Worte „Tod dem Finanzminister” bildeten.
Fakt ist nur: Es war ein wundervoller Tag in Dodge City damals auch, wenn es geregnet hatte.


Diese Geschichte wurde ausgezeichnetim Rahmen des Literaturwettbewerbes der Stadt- und Regionalbibliothek Frankfurt (Oder) 1997. Sie ist die erste von inzwischen vierzehn Episoden aus dem Leben in Dodge City. Und mehr sind zu erwarten.
Copyright © 1997 Corinna Hein