Das war der entsetzlichste Heiligabend, den ich je erlebt hatte. Wieder war kein Schnee gefallen, und die Eiseskälte hielt jedermann davon ab, auch nur einen Fuß vor die Tür zu setzen, wenn es nicht unbedingt notwendig erschien. Es herrschte uneingeschränkte Langeweile. Die Enge im Haus ging uns allen auf die Nerven. Und als am heiligen Abend nahezu die gesamte Verwandtschaft anrückte, um sich auf unserer Couch breitzumachen, das Fernsehprogramm zu bemängeln und lauthals kundzutun, dass Weihnachten früher viel besser war, war die magere Weihnachtsstimmung endgültig verflogen. Mutter verließ die Wohnstube, nachdem Opa laut hustend bemerkt hatte, dass die Plätzchen in diesem Jahr etwas braun geraten seien, mein beleibter Cousin fing irgendwann zu heulen an, weil Oma ihm die Dose mit den Süßigkeiten entzogen hatte, und unser kleiner Kater Moritz erklomm todesmutig den Christbaum, während meine Mutter in der Küche zu mir meinte, dass sie im nächsten Jahr zu Weihnachten wegfahren würde, und wir doch zusehen sollten, wie wir über die Runden kämen. Der Lärm des fallenden Baumes und die Entsetzensschreie, der in der Wohnstube Zurückgebliebenen, beendete unsere Diskussion abrupt und ließ uns aus der Küche stürzen. Fröhliche Weihnachten! Am nächsten Morgen wurde ich durch heftiges Sturmklingeln geweckt. Wieder einmal bewunderte ich den Schlaf der restlichen Familienmitglieder, während ich mich mit verschiedenen Flüchen auf den Lippen zur Haustür schleppte. Kaum, dass diese geöffnet war, traf mich eine Ladung Schnee im Gesicht. Aufkreischend wedelte ich mir das weiße Zeug aus den Augen und bemerkte kurz darauf, dass es sich weder nass noch kalt anfühlte. Da war schon das amüsierte Lachen meines Onkels zu hören. "Na, Kleene," brüllte er mir entgegen, "fröhliche Weihnachten!" und warf noch eine Handvoll Kunstschnee in die Luft. "Pscht!" zischte ich, "Die schlafen alle." Doch im selben Augenblick erschien bereits meine Mutter auf der Treppe und stürzte sich mit einem freudig überraschten "Thomas!!!" in die geöffneten Arme ihres älteren Bruders. Wenig später waren auch mein Bruder und mein Vater zur Stelle, und es gab ein ziemliches Hallo in unserem Hausflur. Während am Vormittag die Gans in der Röhre vor sich hin briet, erzählte uns Onkel Thomas von seiner Afrikareise, von der er gerade zurückgekehrt war. Solange ich zurückdenken kann, umwitterte ihn ein Hauch von Abenteuer, und ich seufzte Mitleid heischend: "Ach, du hast es gut. Afrika war wenigstens aufregend." Er warf mir jedoch nur einen kurzen Blick zu und beantwortete eine Frage meiner Mutter, die alles ganz genau erfahren musste. Nachdem von der Gans nur noch Knochen für unseren Hund übrig geblieben waren, rief mein Onkel: "So, und jetzt werft euch mal ein ein paar warme Klamotten und folgt mir unauffällig!" Und schon lud er uns alle in seinen Van und fuhr drauflos. Bis heute weiß ich nicht genau, wo wir damals waren, aber es war ein wundervoller Ort. Reif glitzerte auf den Bäumen, Gräsern und Sträuchern. Das Holz knackte. Mutter und Vater schlenderten Arm in Arm hinter uns, die wir samt Hund Bella übermütig in den Wald liefen, her. Nicht weit entfernt sprang ein Reh aus dem Unterholz auf und schlug sich mit weiten Sprüngen tiefer in den Wald. Bella schickte ihm ein sehnsüchtiges Winseln nach und umsprang danach erneut Onkel Thomas, der mit einem Stück Holz winkte. Kalter Wind blies mir ins Gesicht. Meine Nase war fast abgestorben. Doch ich fühlte mich großartig. Das musste Weihnachten sein! "Du kannst deine Nase ja als Leuchtfeuer benutzen." spöttelte mein Onkel, als er uns dann am späten Abend wieder verließ, und zwinkerte mir zu. Ich lachte und antwortete: "Fröhliche Weihnachten, Onkel!" |
---|
Diese Geschichte erschien im Rahmen des Weihnachtsgeschichtenwettbwerbes im Oderland Spiegel am 20.12.1998. Sie ist verantwortlich dafür, dass ich eine Friteuse besitze, und mein heimatlicher Fankreis jährlich eine neue Geschichte erwartet. |
Copyright © 1998 Corinna Hein |