Einführung in den Traum von einer besseren Welt

(Lutz Görner [Hrsg.]: Heinz Kahlau - Sämtliche Gedichte und andere Werke, Aufbau Verlag, Berlin, 2005)

„Die Zeit, da man sich um mich riss,/ ist, mir zum Glück, schon längst vorbei,/ ich bin mir dessen wohl gewiss;/ das meiste daran war Geschrei, ...“ schreibt Heinz Kahlau wenig lobend in seinem Gedicht „Eigenlob“ (1998). Tatsächlich wird der Name Kahlau eher der Generation ein Begriff sein, welche in der ehemaligen DDR gelebt hat. Doch das von Lutz Görner anlässlich des 75. Geburtstages des Lyrikers im Aufbau Verlag herausgegebene bibliophile Gesamtwerk, macht es wieder möglich, sich daran zu erinnern, wie es war, als man laut Rahmenplan der fünften Klasse Kahlaus Gedicht „Mein Vater“ (1959) auswendig lernen musste. Und für interessierte Nicht-Ex-DDR-Bürger gilt es nun, den auflagenstärksten Lyriker der Gegenwart zu entdecken.

Dabei mutete es zunächst gar nicht so an, als würde aus dem jungen Kahlau dereinst ein Dichter werden. Die Unterrichtsmethoden der 30er Jahre hatten ihm den Spaß an Gedichten gründlich ausgetrieben, erfährt man aus dem Gespräch zwischen Görner und Kahlau, welches anstelle des üblichen Vorwortes in den Band einführt. Dennoch münden ein langer Krankenhausaufenthalt und die Bekanntschaft mit Ringelnatz’ Gedichten in ersten lyrischen Versuchen. Einige dieser Verse sind im vorliegenden Gesamtwerk erstmals zwischen Buchdeckeln gepresst worden, so auch das Gedicht „Autounglück“ (1950) mit dessen Zeitungsabdruck die schriftstellerische Laufbahn Kahlaus begann. Unverhofft wie dieser erste Erfolg fügt sich auch sein weiteres Autorenschicksal, das ihn zum Meisterschüler Berthold Brechts werden lässt. Vom Einfluss Brechts sind denn auch seine frühen Werke deutlich gekennzeichnet. Sowohl aus dem Zyklus „Hoffnung lebt in den Zweigen des Caiba“ (1954) als auch späteren Gedichten tönt es auf Brecht’sche Weise didaktisch belehrend.

Diesen Werken kann man nur aus kulturhistorischer Perspektive Lesevergnügen abgewinnen. Der heutige Leser findet es eher befremdlich bis naiv, wenn der Ausbruch eines schwarzen Baumwollpflückers aus seinem Sklaventum den Höhepunkt in einer Teilnahme an den Weltfestspielen der Jugend in Bukarest findet. Der „sozialistische Mensch“ der ehemaligen DDR sollte jedoch auf kulturellem Wege politisch gebildet und geformt werden. Themen wie diese waren daher nicht nur gern gesehen sondern wurden von der politischen Führung gefordert. So kam es auch, dass Kahlau dem Maisanbau und der Verarbeitung von Mais einen ganzen Gedichtband widmen konnte („Die Maisfibel“, 1960) und, dass Motive wie Thälmann, Lenin oder der „werktätige als Held“ in seinen Gedichten zu finden sind. Diese Art von Lyrik bediente den Verständnishorizont der einfachen Menschen mit konkreten Formulierungen, wenigen Metaphern und klaren sprachlichen Bilden, die nicht erst dechiffriert werden mussten.

„Ich kann nur ganz einfache Sachen sagen...“ heißt es daher in dem Gedicht „Bitte um Nachsicht“ (1955). Diese Nachsicht übt man gern, denn Kahlau steht dem Weg, wie man die durchaus löblichen Ziele des Kommunismus in der DDR erreichen will, auch kritisch gegenüber. 1964 stellt er in seinem Gedicht „Die Unentbehrlichen“ heraus, wie die Masse blind den Mächtigen folgt und alle Kritiker sofort zu ihrem Feind werden. Kritik an der Antriebslosigkeit mancher Zeitgenossen wird in seinem Gedicht „Märkisches Dorf“ (1963) deutlich, in welchem die Bewohner Haus und Hof vernachlässigen und sich stattdessen mit Hilfe des Fernsehers in eine vermeintlich schönere Ferne flüchten. Viele Verse, die deutlich politisch kritisch wurden, konnten erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands und in dem vorliegenden Gesamtwerk veröffentlicht werden. So auch das Gedicht „An einen Terroretiker“ (1957), dessen Bekantwerden durch einen Abdruck in der französischen Tageszeitung „Le Monde“ zusammen mit der Unterstellung, in den Ungarn-Aufstand involviert gewesen zu sein, den Dichter beinahe für sieben Jahre ins Zuchthaus Bautzen gebracht hätte.

Damit teilt Kahlau das Schicksal vieler Autoren in totalitären Systemen: Auf der einen Seite verleiht man ihm hochrangige Auszeichnungen wie den „Heinrich Heine Preis“. Auf der anderen Seite wird er permanent überwacht, was man in dem Gedicht „Der ungebetene Gast“ (1965) nachlesen kann. Auch Kahlau drückt die Last der Zensur. Politisches Schreiben muss mit List vonstatten gehen, wenn man mehr sagen oder anders schreiben will, als offiziell gewünscht wird. Einige Rezensionen der einzelnen Gedichtbände, die in das Gesamtwerk übernommen wurden, sprechen harte Worte zum „Wert“ von Kahlaus Gedichten: Von „nicht erreichten Normen statt zielgerichteter Nachdenklichkeit“, von „scheindialektischer Spekulation“ sowie „Nebensächlichkeiten und Abwegigkeiten“ ist die Rede. 1957 rettete Kahlau vor dem Zuchthaus nur noch die Einwilligung darin, für den Staatssicherheitsdienst tätig zu werden. Zum Glück gelingt es dem unkooperativen IM (Informeller Mitarbeiter) ein paar Jahre später auf gewitzte Weise wieder aus dem Kontrakt entlassen zu werden.

Berühren werden den heutigen Leser eher die Gedichte Kahlaus, die autobiographisch inspiriert sind wie diejenigen, in denen er Kriegserlebnisse verarbeitet, oder seine Liebeslyrik. Beispiele lassen sich in allen Gedichtbänden finden. Sie zeugen von Respekt und Einfühlungsvermögen. Niemals ergeht sich der Schriftsteller in Sentimentalitäten oder greift zu Plattitüden. Immer ist seine Aussageabsicht klar verständlich und ebenso schlicht wie schön. Exemplarisch mögen hier die Gedichte „Für Christine“ (1957), „Auszeichnung“ (1964) und „Herrmann Hinze“ (1989) stehen.

Aus einigen Gedichten von nach 1990 liest man deutlich die Enttäuschung über die gescheiterten Bemühungen um eine bessere Welt sowie die Enttäuschung über das politische und gesellschaftliche Desinteresse der jungen Generation heraus. Im „Kinderkram-Lied“ (1992) heißt es dazu: „Wir hatten den Herren/ die Fabriken genommen/ damit unsere Kinder/ ins Vorderhaus kommen./ Doch die wollten nicht/ als Fabrikherren leben/ und haben sie denen/ wiedergegeben. [...] Die wollten die Wahrheit‚/ ‚Ihr macht uns nicht doof’/ und zogen zurück in den Hinterhof./ Da züchten sie Gras/ und huren für Schnee/ und hocken zusammen/ in ihrer WG.“ Trotz bitterer Worte wie diesen kann man vielen Gedichten entnehmen, dass dem Autor der Humor nicht abhanden gekommen ist. Der spöttische Unterton, der ihm den Heinrich Heine-Preis eingebracht hat, ist noch vorhanden. Die Themen sind vielfältig geblieben. Und auch wenn der Schriftsteller nach eigener Aussage heute am liebsten aus dem Fenster guckt und ein fauler Hund geworden ist, wünscht man ihm doch zum 75. Geburtstag, dass ihn die Inspiration nie verlassen möge.

Für die geneigten Leser bleibt das vorzüglich aufgemachte Gesamtwerk von Aufbau, das in einem roten Leineneinband mit Lesebändchen auf über 1000 Seiten neben den bereits veröffentlichten sowie bisher unveröffentlichten Gedichten, Rezensionen sowie dem originellen Vorwort auch theoretische Aufsätze von und über Heinz Kahlau beinhaltet – ein Gedichtband und ein Zeitdokument gleichermaßen.


veröffentlicht auf buchwurm.info, 2006 veröffentlicht auf ciao.com, 2006
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