18.3.

8.26 Uhr - Hauptbahnhof K. Der Schaffner hebt die Kelle. Ich sage zu Manne: "Abfahrt!" Der Zug rollt an, die Straße, die Müllcontainer, vorbei am Supermarkt. Jeden Tag kommen wir hier vorbei, und ich sage mir, morgen musst du mal aufpassen, ob's ein Aldi ist. Aber vielleicht ist das gar nicht so wichtig. Auch heute habe ich wieder vergessen, darauf zu achten. Er ist einfach da, ein Supermarkt, groß, bunt und voller Menschen. Selbst jetzt 8.33 Uhr.
Weiter - vorbei an den Betonsilos der Innenstadt. Da - die Einfamilienhäuser. Wie jeden Morgen 8.35 Uhr verläßt ein Mann das dritte Haus (das mit den grellroten Jallusien) zur Hintertür.
Der Zug gewinnt an Fahrt. Wir verlassen die Stadt, fahren über eine Brücke. Am Brückenhaus steht mit schwarzer Farbe "Frank liebt Susi". Das Haus sieht verlassen aus.
8.40 Uhr - gleich werden die ersten Schrebergärten auftauchen. Manne wird wie jeden Morgen fragen: "Hast mal ne Kippe?", und ich werde antworten: "Linke Jackentasche." Ich stecke sie immer in die linke Tasche, obwohl ich eigentlich kein Linkshänder bin. Manne drosselt das Tempo. Ach, ja, ichhabe vergessen zu erwähnen, dass wir kurz vor N. sind. Manne raucht immer während des Aufenthaltes in N.
8.45 Uhr - der zug hält in N. Wir warten jetzt auf den Gegenzug aus G. Der Gegenzug aus G. ist montags stets grün-grau, nach Vorschrift. Im Laufe der Woche gewinnt er an Farbe. Ich möchte auch einmal Graffities an einen Waggon sprayen, aber ich bin völlig untalentiert. Naja, früher habe ich ganz gut Klavier gespielt. Jetzt bin ich bei der Bahn.
8.48 Uhr - heute ist Montag. Der Gegenzug aus G. fährt an uns vorüber. Der Lokführer grüßt. Natürlich grüßen wir auch. Ich kenne ihn, aber seinen Namen habe ich vergessen. Die Schaffnerin hebt die Kelle. Manne löst die Bremse. Ich sage: "Abfahrt." Wir fahren weiter in Richtung G.


19.3.

8.26 Uhr - Hauptbahnhof K. . Der Schaffner hebt die Kelle. Ich sage zu Manne: "Abfahrt!" Der Zug rollt an, die Straße, die Müllcontainer, vorbei am Supermarkt. Ach, ja, ich wollte doch gucken, ob's ein Aldi ist. Erst 8.33 Uhr aber er ist voller Menschen. Weiter . vorbei an den Betonsilos der Innenstadt. Da, die Einfamilienhäuser. Es ist 8.33 Uhr und der Mann aus dem dritten Haus mit den grellroten Jallusien verläßt es zur Hintertür. Der Zug gewinnt an Fahrt. Wir verlassen die Stadt, fahren über die Brücke. Am Brückenhaus steht mit schwarzer Farbe "Frank liebt Susi." Das Haus sieht einsam aus.
8:40 Uhr - die ersten Schrebergärten. Manne fragt: "Hast mal ne Kippe?" Ich antworte: "Linke Jackentasche." Habe ich schon erwähnt, dass ich kein Linkshänder bin?
8.44 Uhr - wir fahren in N. ein. Ich weiß nicht genau, ob die Schaffnerin schon immer langes scharzes Haar hatte. Sie hatte aber noch nie diese großen blinkenden Augen, die nun wie wir in Richtung G. schauen. Lächelt sie?
8.48 Uhr - der Gegenzug aus G. ist vorbei - eine Minute zu früh. Er hat mir eine Minute gestohlen. Manne löst die Bremse, wir fahren weiter in Richtung G. Ich habe noch gar nicht "Abfahrt" geagt. Manne hat mir mindestens zwei Minuten gestohlen.
Aber ich sehe noch ihre Haare im Wind wehen. Sie hatte keine Dienstmütze aufgehabt. Heute ist Dienstag, und der Gegenzug aus G. ist ohne Graffities vorbeigefahren, oder habe ich bloß nicht darauf geachtet?


20.3.

8.26 Uhr - Hauptbahnhof K. . Der Schaffner hebt die Kelle. Ich sage zu Manne: "Abfahrt!" Der Zug rollt an, die Straße, die Müllcontainer, vorbei am Supermarkt. Mist! Ich habe wieder nicht darauf geachtet.
8.33 Uhr - ich frage mich, ob diese vielen Menschen nichts besseres zu tun haben.
Weiter - vorbei an den Betonsilos der Innenstadt. Es ist 8.35 Uhr und der mann verläßt das Haus mit den roten Jallusien zur Hintertür. Waren sie nicht gestern noch grellrot?
Der Zug gewinnt an Fahrt. Wir verlassen die Stadt, fahren über die Brücke. Ob Frank Susi immer noch liebt?
8.40 - die ersten Schrebergärten. Manne fragt mich nach einer Kippe. Ich gebe ihm eine aus meiner linken Jackentasche mit der linken Hand. Vielleicht bin ich doch ein Linkshänder. Manne drosselt das Tempo. Wir halten in N. Es ist 8.45 Uhr. Leute verlassen unseren Zug. Sie hilft einem alten Mütterchen beim aussteigen. Schade! heute hat sie ihre Mütze wieder auf. Sie lächelt mich an, keinen Zweifel . mich. Sofort ziehe ichmeinen Kopfins Führerhaus zurück. Bin ich ein kleiner Junge? Ich zwinge mich, wieder hinauszusehen. Sie steht direkt unter mir. "Wie heißt du?" Sie will meinen Namen wissen? Ich sage: "René." René hat mir noch nie gefallen. Es ist ein Weibername. Hat sie eben wirklich gesagt: "Schöner Name. Ich heiße Katrin."? Ich glaube, ich habe schon mal eine Katrin gekannt, als ich in der Schule war. Ist ziemlich lange her. Sie fragt mich, ob wir morgen
Abend zusammen essen wollen. Ich sage: "Abfahrt." Manne hat schon die Bremse gelöst. Wir fahren weiter in Richtung G. Warum kam der Gegenzug heute gar nicht?


21.3.

8.26 Uhr - Hauptbahnhof K. . Der Schaffner hebt die Kelle. Er scheint ziemlich jung zu sein. Ich glaube er trägt einen Ohrring. Ich sage zu Manne: "Abfahrt!" Der Zug rollt an, die Straße, die Müll... Nanu, seit wann steht denn da eine Eiche? Vorbei am Aldi - es ist also doch einer, und heute sind nicht so viele Menschen da, obowhl es schon... . Jetzt habe ich auch noch meine Uhr zu Hause liegenlassen.
Weiter - vorbei an den Häuserfronten der Innenstadt. Der Mann aus dem dritten Haus steht in der Hintertür. Seine Frau steht neben ihm. Ich bin mir sicher, dass sie verheiratet sind. Der Zug gewinnt an Fahrt. Wir verlassen die Stadt, und ich bin überzeugt davon, dass Frank Susi immer noch liebt.
8.40 Uhr - Manne fragt mich nach einer Kippe, wir sind ja kurz vor den Schrebergärten. Ich sage: "Linke Tasche.", als mir einfällt, dass ich heute einen anderen Anzug anhabe. Ich war gestern auch beim Friseur. Manne sagt: "Willste mich veräppeln?", aber ich überhöre es einfach, halte Ausschau nach meiner Schaffnerin. Manne drosselt das Tempo, und ich erkenne schon die Dienstmütze. Es muss jetzt 8.45 Uhr sein, denn wir halten in N.
Ich will ihr zurufen, dass ich sie um 20 Uhr heute Abend hier abholen werde, aber es schaut kurzes blondes Haar unter ihrer Dienstmütze hervor. Da ist der Gegenzug aus G. Er ist voller Graffiti. Der Zugführer grüßt. Mir fällt sein Name nicht ein, aber meine Hand hebt sich wie von selbst zum Gruß. Ich sage gar nichts mehr. Manne fährt an, als die Schaffnerin pfeift.
Wir fahren weiter in Richtung G.
Morgen trete ich meinen Dienst in S. an.


Diese Geschichte wurde im Rahmen des Literaturwettbewerbes der Stadt- und Regionalbibliothek Frankfurt (Oder) 1996 "Und wir flogen 1000 Jahre - Mit Pegasus ins Reich der Träume" ausgezeichnet und in einer Broschüre veröffentlicht.
Copyright © 1996 Corinna Hein