Er ist 33 Jahre alt, als in die Staaten fliegt und sich Steinbeck gleich einen Camper besorgt, um mit seinem Hund "Goldbär" Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts für 405 Tage "In Search of Amerika" durch die USA zu reisen und den "Wahnsinn einer Traumgemeinschaft" (so der Untertitel) am eigenen Leibe zu erfahren. Seine Odyssee ist geprägt von Schwierigkeiten mit seinem ständig in irgendeinem Bauteil versagenden Wohnmobil und den Bekanntschaften mit den unterschiedlichsten Menschen. Der schmierige Autoverkäufer, kundenunfreundliche Werkstattbesitzer, allen Fremden gegenüber feindlich und abwehrend eingestellte Privatgrundbesitzer stehen Menschen gegenüber, die wenig bis gar nichts besitzen und sich dennoch Menschenwürde, Neugier und ein freundliches Wesen bewahrt haben. Auf Seiten der Weißen wie der Schwarzen entdeckt er die gleichen historisch gewachsenen und immer noch nicht überwundenen Vorurteile, in deren nimmermüder Wiederholung und gegenseitigem Hass sich beide Seite so ähnlich sind, wie sie es in ihren kühnsten Träumen nicht vermuten würden.
Die Dimensionen des Landes erlebt Schweitzer so unbegreiflich wie die alten Maße (Acre/Section), welche eine Masse an Landbesitz eines Menschen ausdrücken, wie sie halb Deutschland ausfüllen würde. Und doch zeigt sich der amerikanische Nationalstolz letztendlich als aufgesetzte Fassade, wenn die Rancherin im Nationalpark die Bevölkerung Amerikas als in einer Illusion von Freiheit und Einheit lebend beschreibt: "Bei uns werden immer nur die Guten getötet. (...) Und weil in Amerika jeder Angst hat, irgendwann einmal von einem Idioten abgeknallt zu werden, sind wir alle still. (...) Wir haben die Aufgabe, das Bild von einer unbegrenzten, sogenannten demokratischen Freiheit aufrechtzuerhalten, das uns stolz macht, hier leben zu dürfen. Deshalb will auch niemand weg, das heißt, es traut sich niemand wegzugehen, weil wir alle uns gegenseitig glauben machen, nur in Amerika gäbe es Freiheit und alle anderen Länder auf dieser Welt lebten in Unfreiheit." Solchermaßen stellen sich auch die Anfeindungen dar, welche Schweitzer als "herumvagabundierendem Tramp und Tagedieb" oder als Weißem entgegenschlagen, immer resultierend aus der Angst vor dem "Anderen"; nur mit dem gefährlichen Hintergrund, dass in Amerika die Gesetze auf der Seite des Besitzenden sind und praktisch jeder Einwohner eine voll funktionsfähige Waffe besitzt, ohne die man sich scheinbar nicht sicher fühlt, mit ihr aber auch nicht wirklich.
Auf der anderen Seite begegnet dem reisenden Autor auch die zweite Seite der Medaille, welche diese Regel des Schutzes der Besitzenden außer Kraft setzt, wenn es sich um die Ureinwohner des Landes handelt, deren Rechte immer noch dem Willen des Staates der einstigen Eroberer gemäß gebeugt werden können. Das Unrecht, welches man ihnen angetan hat, wird am Beispiel des Gedenksteins am Ort des Massakers von Wounded Knee und der Tatsache geschildert, dass die Indianer sogar ihnen zugesprochenes Land räumen müssen, wenn ein Filmteam dort Aufnahmen machen will. Solche Widersprüche und Absurditäten des amerikanischen Alltags und die tiefen Einblicke in die unterschiedlichsten Lebensweisen und Charaktere dieses riesigen Landes machen das Buch zu einem Lesevergnügen - vor allem, wenn der Autor mit einer lockeren ungekünstelten Schreibe seinen persönlichen Ton findet.
Natürlich kann Schweitzers Suche nach Amerika kein allgemein gültiges Ergebnis bringen - zu groß ist das Land, zu verschieden sind die Menschen, die Meinungen sowie die Lebensentwürfe. Wie Steinbeck auf seiner dreimonatigen Reise durch Amerika, entwickelt Schweitzer ein facettenreiches Bild des Amerikas der 90er Jahre. Es dürfte spannend zu lesen sein, welche Erfahrungen man auf einer solchen Reise jetzt nach 9/11, verschärften Einreise- und Aufenthaltsbedingungen sowie paranoider Angst vor Terrorismus machen würde; sind doch die politischen und gesellschaftlichen Tendenzen bereits zu Schweitzers Reisezeiten deutlich ablesbar und werden vom Autor in einem der letzten Kapitel über das ihm immer wieder das Reiseleben erschwerende Neighbourhoodwatch-System - als System eines durch Abgrenzung, Rassenvorurteile sowie Fremdenfeindlichkeit geprägten Denunziantentums, welches eher Hass und Angst schürt als Sicherheit bringt - zusammengefasst. Solchermaßen werden die lebendigen Schilderungen der Menschen und Begegnungen auch bei Schweitzer immer wieder in kleine Reflexionen über die Landschaft, über Literatur, Politik und Geschichte eingebettet.
Auffällig und gewollt ist dabei der Schreibstil, welchen Schweitzer an den der Beat Generation angelehnt hat. Er verweist selbst auf Kerouacs Roman "On the Road", dem ebenso das Motiv einer Reise durch die Staaten zugrunde liegt. "Wie einen Cowboy, der das Pferd gegen ein Auto getauscht habe", beschreibt Kerouac seinen Freund und Fahrer seines Autos Neal Cassady. Solch ein Cowboy will auch Schweitzer sein. Mehr als deutlich wird das im ersten Kapitel, dessen eigentlicher Prosatext durchzogen ist von Westerntiteln. Was auf den ersten Seiten noch amüsant wirkt, wird jedoch schnell anstrengend; überhaupt ist der an spontaner Prosa orientierte Schreibstil nicht immer einfach zu lesen, denn der Autor springt dabei von einer Erzählweise in die nächste. Manches wird nur fragmentarisch angerissen; anderes dem Leser bewusst cool aus der Perspektive eines Dritten in Satzfetzen um die Ohren gehauen, Gereimtes mischt sich mit Verkehrsschildersprache. Andeutungen stehen flüssigen Schilderungen gegenüber. Dann wieder tauchen Kapitel im szenischen Schreiben auf. Man findet neben einer bewusst gewählt gehaltenen Sprechkultur beispielsweise der Zeugen Jehovas auch gelegentlich den unverfälschten Ton der amerikanischen Gosse. Besonders originell und gelungen ist vom Aufbau her das Kapitel "Intermezzo", in dem ein Mittagessen einer Familie am Rande der Gesellschaft und ein Essen in einem noblen Restaurant bzw. die Eintrittspreise von Disneyland vermischt werden und sich dennoch kontrastierend gegenüberstehen. Der Subjektivität der Prosa wirkt die Vielzahl der geschilderten Begegnungen entgegen, welche ebenso vielfältig wie die verwendeten literarischen Formen sind, mit denen der Autor in "Hautnah USA" arbeitet, und die in der Summe ein recht objektives und komplexes Bild der amerikanischen Gesellschaft ergeben. Dabei schildert Schweitzer die Menschen überwiegend beobachtend und nicht wertend, dafür mit Sympathie und Humor.
Neben dem Inhalt muss bei diesem Buch aus dem Conbook Medien-Verlag auch auf die liebevolle Aufmachung hingewiesen werden. Neben dem braunen Kunstledereinband findet man ein Lesebändchen und vielfältige Illustrationen von Susanne Schweitzer wie die Reiseroute auf der ersten Umschlagseite, Fotos und Zeichnungen. Damit sind die 350 Seiten jeden ihrer knapp 15 Euro wert. Dass das Interesse an Amerika, den Amerikanern und dem Leben in Amerika in Deutschland immer noch groß ist und der Funken Hoffnung auf die Grenzenlosigkeit und Freiheit Amerikas in den Träumen vieler Deutsche herumspukt, beweisen neben der vorliegenden Neuerscheinung auch das große Interesse an Sabrina Fox' Buch "Mrs. Fox will wieder heim" (2008) und die zahlreichen Urlaubskataloge, welche Individualreisen mit dem Auto über mehrere Wochen anbieten. "Hautnah USA" sollte bei allen Idealisten als amüsante, ambitionierte, spannende und teilweise erschreckende Vorlektüre auf dem Pflichtprogramm stehen.
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