In den Geschichten, die Karla Schmidt unter dem Titel "Hinterland" zusammengetragen hat, wird der Geist Bowies aber nicht nur als Gag heraufbeschworen, sondern die Autoren haben sich eingehend mit den Songs des wohl einflussreichsten Popmusikers des 20. Jahrhunderts beschäftigt und sich zu Erzählungen über fremde und dennoch vertraute Welten inspirieren lassen. Auf Bowies Spuren dringen sie in das Hinterland seines Schaffens vor und entwerfen kritische Visionen unserer Welt, angefangen von der näheren Zukunft bis hin zu zeitlich weit entfernten Roboterwelten ("Life on Earth").
Dabei tummeln sich auf den Seiten kein Ziggy Stardust kein Major Tom und schon gar keine Marsmännchen. Vielmehr setzen sich die Autoren mit den Konsequenzen der sich bereits abzeichnenden Tendenzen unserer Zeit auseinander und verarbeiten Themen wie zunehmende Umweltverschmutzung und in geistlose Abhängigkeit von der Technik geratene Menschen ("Jenseits der Mauer"). Sie schreiben über totalitäre Regime, die an Orwell erinnern ("Tief blau") oder eine nicht minder verstörende Gesellschaft, in der Verbrechen an ihrem künstlerischen Wert gemessen werden ("Triptychon"); eine Welt, in der der Terror, den man heute überwiegend nur aus dem Orient kennt, auch die westliche Welt beherrscht ("Kamera(d) Action!"), oder spekulieren über die menschliche Entwicklung hin zu physisch sowie psychisch degenerierten Wesen ("Purgatorium", "Kleines Mädchen aus China" u. a.).
Diese Geschichten liest man nicht einfach nur und blättert die nächste Seite um, sondern sie sind selbst Inspiration, an der Stelle weiterzudenken, wo die Protagonisten, wenn sie aus der Masse heraustreten und zu erkennbaren Individuen werden, scheitern. Mit Grausen verfolgt man die Gedanken des Konzernleiters, der zum Erhalt seines eigenen Status quo und der bequemen Unwissenheit der Menschen zum Massenmörder wird ("Vierte und Erste Sinfonie oder: Müllerbrot"), oder bedauert Janus, der einem selbstbestimmten Leben bereits sehr nahe kommt, um dann in ein Stadium noch größerer Abhängigkeit zurückgeworfen zu werden ("Erlösungsdeadline").
Alles in allem merkt man dieser gelungenen Sammlung an, dass hier reife Autoren mit Sachkenntnis, Fantasie und Leidenschaft am Werk waren. Ihnen gefallen nicht nur einige seiner Songs, sondern eingestreute Details wie die unterschiedlichen Augenfarben Bowies und biografische Fakten outen sie als Fans oder zumindest als sorgfältige Rechercheure. Sehr gut gelungen sind die kurzen einführenden Texte vor jeder Erzählung, in denen man einige Informationen über die Autoren bekommt und feststellen kann, dass es sich um gestandene Schriftsteller mit reicher Erfahrung handelt, und die einleitenden Worte, in denen die Autoren über die Auswahl des sie inspiriert habenden Songs schreiben. Eine gute Idee war es, gerade diese Betrachtungen über die Songs auszugliedern. So erhält der Leser die Möglichkeit, seine Verbundenheit mit dem Schaffen Bowies zu testen, indem er die einleitenden Texte erst später liest und quasi detektivisch herauszufinden versucht, um welche Songs es sich handeln könnte. Manches liegt auf der Hand ("Das ist nicht Amerika"), andere Parallelen erschließen sich ohne Hilfestellung nur wahren Kennern ("Hinterland").
Karla Schmidt und ihre Autoren laden den Leser ein, sie an einen überraschenden und geheimnisvollen Ort zu begleiten, an dem sowohl Songs als auch Geschichten entstehen. Für 14,95 Euro lohnt es sich durchaus, diese Einladung zu einem erfrischend tiefgründigen und inspirierenden Ausflug in die Zukunft anzunehmen.
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