Auf den Spuren Sir Arthur Conan Doyles

(Irtenkauf, Dominik: Holmes und das Elfenfoto, BLITZ, 2009, ISBN: 3898402169)

1920 erschien im The Strand Magazine ein Artikel unter dem Titel "Epochales Ereignis - Feen fotografiert". Demzufolge hatten drei Jahre zuvor zwei Mädchen aus der englischen Grafschaft Cottingley mit der Kamera ihres Vaters Aufnahmen voneinander gemacht, auf denen auch lebhafte Feenwesen zu sehen waren. Der Verfasser des Artikels war kein anderer als Sir Arthur Conan Doyle, der sich inzwischen vom Bewunderer des rational analytischen Denkens, wie es auch seine wohl berühmteste Figur, der Detektiv Sherlock Holmes, verkörpert, zum bekennenden Spiritisten gewandelt hatte. Abgesehen davon, dass der Glaube an die Echtheit der Fotos als Beweis der Existenz von Feen den eloquenten Ruf des Autors untergraben hat, gestand die inzwischen 83-jährige Elsie Wright erst Ende des 20. Jahrhunderts ein, dass die Fotos von den "Cottingley Fairies" mithilfe auf stabilem Karton nachgezeichneter Kinderbuchillustrationen entstanden und damit Fälschungen waren. Für Arthur Conan Doyle kam dieses Geständnis ein halbes Jahrhundert zu spät. Er nahm seine Überzeugung mit ins Grab.

Der Autor Dominik Irtenkauf hat sich zweifellos von dieser Episode im Leben Doyles, die scheinbar im Widerspruch zu dem wissenschafts- und technikbegeisterten Abschnitt der Menschheitsgeschichte zu stehen scheint, für sein Romandebüt "Holmes und das Elfenfoto" inspirieren lassen. Nachdem sich Doktor Watson eine Zeit lang völlig auf seine Arbeit als praktizierender Arzt und auf seine Ehefrau konzentriert hat, fehlen ihm nach seinem Auszug aus der Baker Street 221b schließlich die Abenteuer, welche er mit seinem Freund, dem genialen Sherlock Holmes, stets auf den Spuren des Verbrechens erlebt hat. Aber es genügt bereits ein spontaner Besuch in der alten Wohnung, und schon befindet sich Dr. Watson wieder mitten ein einem neuen Fall des Detektivs. Dieser hat sich gerade des angesehenen Adligen und Politikers Lord Suffrey angenommen, welcher mit Hilfe von Fotos, die ihn in kompromittierenden Situationen mit leichten Mädchen zeigen, erpresst wird.

Scheinen die Fakten zunächst auf eine gewöhnliche Erpressung hinzudeuten, entwickeln sich jedoch die Beschattung des zwielichtigen Fotografen und der Tatsache, dass eine Mätresse des Lords plötzlich zerstückelt sowie merkwürdig kostümiert und geschminkt im Park aufgefunden wird, zur Jagd auf eine mysteriöse Sekte, welche die Rückkehr des Paradieses in Gestalt des mythischen Elfenlandes Albion im Gegensatz zur unsicheren Zeit der sozialen und politischen Umbrüchen des 19. Jahrhunderts predigt. Nun ist Sherlock Holmes nicht mehr nur auf den Spuren von Erpressern oder eines dubiosen Kunsthändlers unterwegs, sondern muss sich neben der Suche nach einem wahnsinnigen Mörder auch mit den Möglichkeiten der neuen Technik der Fotografie und der Manipulierbarkeit der nur scheinbar die Realität reproduzierenden Bilder beschäftigen.


Der Autor Dominik Irtenkauf mischt in seinem 2009 im BLITZ-Verlag erschienen Roman "Holmes und das Elfenfoto" mit Phantastik und klassischer Detektivgeschichte zwei Genres, die auf den ersten Blick nicht gerade kompatibel erscheinen - jedenfalls wenn man von den Ursprüngen der Geschichten Sir Arthur Conan Doyles als "Erzählungen vom logischen Denken" ausgeht. Die wenig realitätsbezogene Welt der Feen und Elfen der fantastischen Literatur trifft auf die Welt der Kriminalgeschichte, in der nach Einschreiten des Detektivs alles Mysteriöse oder Rätselhafte auf seine stets irdische und einem menschlichen Plan entsprungene Ursache zurückgeführt wird. Da diese Sherlock-Holmes-Pastiche zeitlich nur ein gutes Stück nach der Heirat Dr. Watsons angesiedelt ist, steckt hinter alledem natürlich das geniale Verbrechergehirn der ewigen Nemesis des Detektivs, seines Erzfeindes Professor Moriarty. Wie Doyle selbst, geht auch Irtenkauf dabei nicht ins Detail, sondern postuliert, dass der Handel mit den vorgeblich künstlerischen erotischen Fotografien vor allem ein Geschäft der Londoner Unterwelt ist und der Napoleon des Verbrechens zweifellos dahintersteckt.

Auf der anderen Seite setzt sich der Autor mit dem Mythos "des kleinen Volkes" der Elfen auseinander, das die britischen Inseln dereinst gemeinsam mit den Menschen bewohnt haben, von ihnen jedoch verdrängt worden sein soll. Bezeichnend ist, dass die einzigen Personen, die diesen Mythos für zweifelsfrei real halten, ein geistig Behinderter und einige Sektenmitglieder sind. Der Sektenführer benutzt den Mythos, um Macht auszuüben und Bewunderer um sich zu scharen. Um seinen perversen Mordgelüsten nachgehen zu können, macht er sie glauben, dass in den vorgeblich unreinen Prostituierten Elfen eingeschlossen wären, die man aus deren Körpern befreien müsse. Leider versucht der Autor die Existenz der Elfenwelt offenzuhalten und wie Dr. Watson auf eine "Grauzone" zwischen Realität und Fantasie zu verweisen. Dabei steht innerhalb der Handlung die Feen-Einleitung ebenso isoliert wie das Elfentheaterstück oder die Elfenbücher, die wie der gesamte Mythos nur zur Flucht der Menschen vor den Problemen ihres Alltags in eine andere Welt dienen.

Viel interessanter ist jedoch die Verarbeitung der Hoffnung der Menschen, die in der Technik- und Wissenschaftsbegeisterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Möglichkeiten der Evolution oder der Fotografie entgegengebracht wurden. Ganz in der Tradition Doyles, der in seinen Kurzgeschichten neueste Innovationen der Technik wie beispielsweise die Bedeutung von Fingerabdrücken aufgenommen hat, spekulieren die Charaktere in "Holmes und das Elfenfoto" über das Potenzial der Fotografie. Zum einen wird sie als unschätzbar für die Anlage einer Verbrecherkartei gesehen. Es werden jedoch auch Überlegungen dahingehend angestellt, ob man mit ausreichend Fotomaterial bereits vom Aussehen her einen Prototyp des Verbrechers ausmachen könnte. Deutlich wird ebenfalls die rasante Entwicklung, die eben nur Familienporträts bei besten Lichtverhältnissen hervorbringt, aber schon ein paar Jahrzehnte später bereits mithilfe ausgeklügelter chemischer Prozesse Manipulationen in ungeahnten Ausmaßen zulässt, die nur bei sehr gründlicher Untersuchung der Aufnahmen zutage treten und trotzdem nicht bewiesen werden können. Faszinierend scheinen auch die Möglichkeiten, die sich mit Darwins Evolutionstheorie und der beginnenden anatomischen Forschung am Menschen plötzlich bieten. So beschäftigt sich die Wissenschaft in "Holmes und das Elfenfoto" mit der Rückführung der Arten auf mögliche Urtypen und deren hypothetischem Überleben, wie man es aus Doyles "The Lost World" (1912) kennt. Irtenkauf nutzt die Gelegenheit, einem Wissenschaftler, welcher derlei Spekulationen für absurd hält, einen ironischen Seitenhieb auf Conan Doyles erfolgreiche Publikation in den Mund zu legen.

Solche ironischen Momente gelingen dem Autor, weil er viel kulturelles Hintergrundwissen einbringt und Wert auf Kleinigkeiten legt. Ein weiteres Beispiel dafür ist die semantische Verwandtschaft des namens Suffrey mit dem englischen "to suffer", das eine Fülle von Assoziationen auslösen kann. Tatsächlich ist es der Lord, der sich "leidend" dünkt, wobei er materiell mit Geld und Ländereien durchaus sehr gut gestellt ist. Einzig seine Sexualität auszuleben, ist ihm mit seiner traditionell zur Weiterführung des Stammbaums, zur Repräsentation oder zur Bewunderung ihres Ehemannes erzogenen Ehefrau scheinbar nicht gegönnt. Möge mancher Mann auch darunter leiden - ironisch gebrochen an den Problemen der restlichen Charaktere des Romans wirkt selbst dieses "Leid" schon wieder lächerlich.

Was ebenfalls bereits auf den ersten Seiten der eigentlichen Kriminalgeschichte positiv auffällt, ist, dass der Autor den Ton der ursprünglichen Sherlock-Holmes-Geschichten getroffen hat. So kann der Leser ohne langwieriges Einlesen in den Roman eintauchen. Natürlich steht von Vornherein außer Frage, dass der Detektiv das Rätsel lösen wird und der Reiz der Geschichte in einer Vielzahl von Zusammenhängen besteht, die von Holmes (und dem Leser) entwirrt werden müssen. Dennoch wünscht man sich, der Autor würde den Leser hier etwas mehr an die Hand nehmen, damit er nicht ständig ebenso im Dunkel der mysteriösen Vorgänge herumtappt wie Dr. Watson.

Möglicherweise hat der mit knapp 30 Jahren noch recht junge Autor aus purer Lust am Schreiben und Ausprobieren weitere Erzählstile in den Roman eingeflochten. Doch gerade eine Straffung in diesen Abschnitten hätte dem in Teilen recht langatmigen Werk zu mehr Spannung verholfen. Geeignet wäre beispielsweise eine Reduzierung des Wortlauts der wiedergegebenen Vorträge gewesen. Auch auf die Wiedergabe des Theaterstücks hätte verzichtet werden können, da es den Lauf der Handlung bremst. Der Ausflug in die Irrenanstalt ist eher interessant als dramaturgisch notwendig. Die Darstellung des Lebens von Lords Suffrey in Schottland oder die Überlegungen der Prostituierten hinsichtlich ihrer in Ansätzen emanzipierten Freundin bringen die Handlung ebenfalls nicht voran. Der durch die Reise nach Europa verlängerte Schluss nach der Überführung der Mörder bringt für den Leser keine neuen Erkenntnisse und lässt das erlösende Moment der Überführung des Mörders verpuffen.

Irtenkauf hat sich vorgenommen, Sherlock Holmes wie seinen Schöpfer über "Kräfte auf dieser Welt, die sich vehement dem rationalistischen Zugang entziehen" stolpern zu lassen und stellt sich damit selbst ein Bein, denn Sherlock Holmes ist nicht Arthur Conan Doyle, und offene Fragen passen nicht zur unfehlbaren Denkmaschine Holmes. Sicherlich besitzt die Verknüpfung von Phantastik und Ratio einen gewissen Reiz, aber es liegt in der Natur der traditionellen Detektivgeschichte, der Holmes und Watson entsprungen sind, dass dem Fantastischen eine rationale Erklärung zugrunde liegt. Demzufolge ist es dem BLITZ-Verlag gelungen, das Sherlock-Holmes-Universum mit diesem Roman der "Sherlock-Holmes-Criminal-Bibliothek" zu bereichern, aber auf die Verknüpfung mit den nicht völlig aufgelösten fantastischen Elementen muss man sich einlassen, um an "Holmes und das Elfenfoto" gefallen zu finden.


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veröffentlicht auf buchwurm.info, 2009
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