Gregor und Marlis Richter saßen vor ihrem Fernseher in einer Oberhausener Zweizimmerwohnung. Man kann nicht sagen, dass ihr Leben bisher sehr gradlinig oder gar glücklich verlaufen wäre. In diesem Lebensstadium wollten sie eigentlich bereits ein kleines Haus besitzen, einen BMW fahren und zweimal im Jahr ins Ausland reisen.
Stattdessen schlug wie an jedem Montag die Uhr Mittag und das Talkshowprogramm begann. Seit Gregor seine Arbeit in der Zeche verloren hatte, sahen sie immer gemeinsam fern, bis Marlis abends zum Putzen in eine Arztpraxis aufbrach.
Sie trug gerade die Teller auf als der Talkmaster einen Aufruf nach Gästen für eine seiner nächsten Shows startete. „Sie haben in der ehemaligen DDR gelebt und sagen „Früher war alles besser“? Oder wünschen Sie sich die Mauer auf keinen Fall zurück? Wir sind gespannt auf Ihre Geschichte. Also rufen Sie uns an?“ Gregor blickte nervös auf Marlis, die wie üblich bei diesem Thema blass geworden war. Er wusste, dass sie an jenen regnerischen Tag im Spätsommer dachte, an dem Marlies und Juliane auf den Zug aufspringen sollten, der ihn und die anderen „Republikflüchtlinge“ aus der Prager Botschaft nach Westdeutschland bringen sollte. Wie konnte dieser Tag ihnen jemals aus dem Kopf gegangen sein – nicht während der zahlreichen Gespräche mit dem Roten Kreuz oder mit der Polizei als sie noch Hoffnung hatten und auch nicht später als sie ganz von vorn beginnend ihr altes Leben hinter sich ließen.
Die Talkshowredaktion interessierte sich sehr für ihre Geschichte, denn im Grunde erschien es fast unmöglich, dass jemandem in den letzten Tagen der vergangenen Republik auf diese Art die Flucht gelungen war. Doch Gregor und Marlis arbeiteten beide bei der Deutschen Reichsbahn. Sie hatten von einem Waldstück Kenntnis, in dem der Zug bedingt durch den schlechten Untergrund langsamer fahren und schließlich wegen der seit Jahren reparaturbedürftigen Gleisanlage auf Schrittgeschwindigkeit drosseln musste. In diesem moderigen Gelände zwischen A. und S. war es wahrscheinlich, dass auch die Bewachung des Zuges erschwert sein würde, so dass ein unentdecktes Aufspringen möglich schien.
Gregor kaute nervös an seinen Fingernägeln. Das war nun aus ihrem lange geplanten Männerurlaub zu dritt geworden. Statt richtig einen draufzumachen, saßen sie zwei Wochen in der Prager Botschaft fest und warteten darauf, dass sich ihr Schicksal entscheiden würde. Auch sein Freund Manni stand permanent unter Spannung. Zu schnell war der Moment des Jubels, nachdem man ihnen verkündet hatte, dass sie in die BRD einreisen konnten, vorüber gewesen.
Gregor fragte sich ernsthaft, ob es nicht besser wäre, dem Beispiel Pits, des Dritten in ihrer Männerrunde, folgend wie geplant in die DDR zurückzukehren. Das war doch alles Wahnsinn!
Manni hatte gut reden von wegen Neuanfang. Er hatte im letzten Moment den reinen Männerurlaub schmeißen müssen, weil seine Frau darauf bestanden hatte, dass die ganze Familie in die Tschechoslowakei mitfahren würde. Naja, Ute und die Kinder hatten eigentlich nicht gestört. Sie waren den ganzen Tag allein unterwegs gewesen, gingen in den Zoo und in Parks. Somit ließ Manni nur ein Haus in der DDR zurück. Seine Familie war hier. Er konnte sie mitnehmen. Gut, wer würde den Hund füttern? Wahrscheinlich seine Schwiegereltern. Da fügte sich alles irgendwie. Aber bei ihm... ?
Der Zug, der die ersten Ausreisewilligen in den Westen brachte, ruckelte und schaukelte über das Land, das nicht mehr ihres war. Es gab welche, die hängten sich in jedem Bahnhof aus den Fenstern und winkten euphorisch. Mannis Frau presste ihr Jüngstes fest an sich, während der Zug den Dresdener Bahnhof passierte und überall Uniformierte mit Hunden zu sehen waren. Wie würden es ihre Eltern aufnehmen, wenn sie erfuhren, dass sie ihre Kinder und Enkelkinder nie wieder sehen würden, weil diese statt in der Tschechoslowakei Urlaub zu machen, plötzlich das Land verlassen hatten.
In Prag hatten sie Pitt einen Idioten gescholten, welcher sich die Chance seines Lebens entgehen ließe. Doch während der Zug ihre Heimat durchquerte, wurden Ungewissheit und Zweifel lauter. Was erwartete sie auf der anderen Seite? Hatte Pitt Marlis den Brief übergeben, der sie in ihren Plan einweihen sollte? Würden sie und ihre einzige Tochter Juliane es versuchen? Würde es ihnen gelingen, auf den Sonderzug aufzuspringen? Würden sie das überhaupt wollen? Gregor war sich dessen nicht sicher. Doch in diesen Tag schien alles möglich. Die Welt war plötzlich groß geworden und lockte verheißungsvoll. Es war genau der richtige Zeitpunkt, um etwas zu wagen. Falls sie nicht kämen, dann würde er versuchen, sie nachzuholen. Man hatte da so einiges gehört.
Unermüdlich bahnte sich der Sonderzug seinen Abschiedsweg durch die vertrauten Landschaften, während Marlis und Juliane im Unterholz darauf warteten, dass er sein Tempo mehr und mehr verlangsamen und in das Waldstück bei S. einfahren würde. Einen Rucksack hatten sie mitzunehmen gewagt, damit den Nachbarn nichts auffiele - einen Rucksack randvoll mit den Überresten eines ganzen Lebens.
Da kam der Zug angezuckelt. „Langsamer“ erschien aus der Deckung im Unterholz immer noch viel zu schnell. Jetzt erreichte er den Abschnitt mit den maroden Geleisen, deren Erneuerung wegen des unzugänglichen Terrains und der damit verbundenen Schwierigkeiten immer wieder verschoben worden war. Wie abgemacht sprangen die beiden aus den Büschen auf, als der Zug wankend näher und näher kam. Sie erklommen die Böschung und rannten neben den Waggons her, bis die geöffnete Hintertür eines Wagens neben ihnen erschien und sich ihnen zwei paar Hände entgegenreckten. Eigentlich sollte Juliane in diesem Moment vor Marlies sein. Es war abgemacht, dass sie als erste springen sollte.
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