Um die Ecke zur Straße des dritten Oktober biegend, hörte Jule an diesem Tag lautes Getöse. Vor dem Haus Nummer 7 standen zwei riesige Container, die sich am Morgen noch nicht dort befunden hatten. K&K Containerservice las Jule und sprang vor Schreck ein Stück zurück, als sich in hohem Bogen Steine, Bretter und Schutt aus den Fenstern im obersten Stockwerk direkt in diese Container stürzten. Jedes Mal, wenn solch ein Stürz mit lautem Dröhnen vor sich gegangen war, erhob sich eine graue Wolke aus dem Trümmerberg im Schuttcontaier, zog über die Straße hinweg und senkte sich anschließen langsam nieder, während sich nach dem nächsten Krachen auch die nächste Staubwolke in die Luft hob. Die Gehwegplatten sahen bereits aus, wie mit schmutzigem Puderzucker bestreut, und auch die grüne Buchsbaumhecke war über den Tag ergraut.
Scheiße, Kalle, da is noch eener von die Hausbesetzer. Haste etwa keene Absperrung ufjestellt, erscholl ein dröhnender Bass und gleich darauf vernahm Jule, wie schwere Füße die Treppe herunter gepoltert kamen. Mädchen hier kannste nich mehr rin, erklärte ein Mann in verstaubten blauen Arbeitshosen. Det haben wa ooch Deine Freunde jesagt. Jule nickte, als verstünde sie, was gerade vor sich ging. Doch in ihrem Kopf summte ein Bienenschwarm, der sie keinen klaren Gedanken fassen ließ: Allein. Wieder allein. Alle sind fort. Miezi, Mackie, der Schweiger - wohin sind sie gegangen? Wohin ist bloß der Zug gefahren? Ich darf niemandem etwas davon sagen. Ich muss weg.
He, Mädel, wat is'n nu? Ick muss die Absperrung uffstelln und du stehst hier im Wege rum wie'n Ölgötze. Die Arbeiter hatten vier Warnbarken aufgestellt, deren blinkende Lampen Jules Blick magisch anzogen, und knoteten nun ein Absperrband an der ersten Barke fest, um es anschließen auch um die anderen zu winden und an der letzten festzuzurren.
Die Stadt hat det Haus verkooft, und nu will it der neue Eijentümer ooch herrichten, dass er't ma vamieten kann. Vastehste ja, wa? Der Bass sah Jule erwartungsvoll an. Doch die Angesprochene war im An-Aus-An-Aus der Warnbarkenlampen gefangen und starrte reglos vor sich hin, ohne den Sprecher wahrzunehmen.
Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es ihr nicht gelungen, ein Glied zu rühren. Ihre Schultern schmerzten und ihr rechtes Bein fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darüber gerollt. Dennoch gab sie keinen Laut von sich. Zu groß war die Angst, von den Zivilstreifen gefasst zu werden. Stattdessen drückte sie sich auf den feuchten Waldboden, als wolle sie mit diesem verschmelzen, um nicht gesehen zu werden. Da raste auch schon eine Vopostreife an ihr und ihrem Versteck unter den niedrigen Sträuchern vorbei. Sie jagten alle, die es versuchten. Und wenn sie Jule erst gefasst hätten, dann musste sie mit dem Schlimmsten rechnen. Jugendwerkhof mindestens. Vielleicht gleich ab nach Bautzen.
Etwas kroch warm und feucht Jules Wange hinunter bis auf die Lippen. Doch als das Mädchen die vermeintliche Träne ableckte, schmeckte sie Blut. Ein stechender Schmerz durchfuhr sie, während sie aufstöhnend versuchte, mit ihrer linken Hand, die pochende Stelle an der Stirn zu erreichen. Unter ihren Fingern fühlte Jule, wie es warm aus einer Kopfwunde ran, und dachte daran, dass sie bereits kilometerweit von Stoliza entfernt sein mussten. Kälte und Feuchtigkeit krochen ihr in die Kleidung. Mit einem Male überwältigte sie eine bleierne Müdigkeit. Mama - nur für einen Moment wollte Jule die Augen schließen und ausruhen; nur für einen Moment.
Moment ma, Kleene! Du musst jetzt echt mal rücken hier. Der Bass schob sie ein Stück zur Seite und ließ anschließend das Absperrband hinunter, welches er über Jules Kopf hinweg geführt hatte. Is zwar schon fast duster, aber wir müssen noch ne Weile. Er sah bedauernd auf die Uhr an seinem Handgelenk. Solln wa die Bulln rufen? Die bring dir denn nach Hause. Is sowieso besser, wenn de mit die Abenteur uffhörst, nu wo der Winta kommt.
Nein, beeilte sich Jule zu sagen, und ihr Herz sackte vor Schreck in die Magengegend. Bitte, nicht!
Ach, kannst woll nich nach Hause, erkundigte sich der andere interessiert.
Jule schüttelte heftig ihren Kopf und wich zurück: Ich hab kein Zuhause mehr.
Nu, mach ma halblang, Mädel. Det jibs doch jar nich. Die beiden schienen plötzlich verärgert zu sein. Ick vasteh ja, wenn die Jugend ma raus will und'n bisschen abjammeln. Wollte unsereens ooch damals, aber bei uns jab's det ja nich. Da wa'n se gleich hinter dir, wa. Der Bass nickte bestätigend zu den Worten seines Arbeitskollegen und ließ mit Hilfe seines Feuerzeugs den Kronkorken von einer Bierflasche fluppen. Du siehst doch jar nich so blöde aus. Irgendwann is alles ma vorbei und denn jeht man wieda nach Hause. Such dir ma 'ne jute Lehrstelle im Westen. Da vadienste ordentlich was und kannst dir ne schnieke Wohnung leisten. Det is doch hier nischt jewesen in dem Loch.
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