Hinter dem letzten Haus begann der Wald, in den sich zwei Wege schlängelten. Jule wählte den Weg, der weiträumig um den Mückenteich herumführte. Der Teich hatte seinen Namen von den dichten schwarzen Wolken, die sommers über dem Wasser hingen und bis in die Nacht hinein ihr Lied vom Blut sangen. Jule mied das dunkle Wasser, denn einmal hatte sie dort eine Mücke erschlagen. Diese hatte sich unbemerkt auf ihren Arm gesetzt und den dünnen Rüssel unter die warme Menschenhaut geschoben. Die Mücke platzte unter Jules Hand. Der Anblick des Fleckes erschreckte sie. Sie sah einen hohen blutigen Turm, aus dessen Ende ein Mückenbein ragte. Oder war es ein langer Weg, den das Blut auf ihre Haut zeichnete? Schnell wischte sie das Bild von ihrem Arm. Sie fürchtete sich vor der Bedeutung des Zeichens. Von dem Tage an mied Jule diesen Ort.
Im Dorf hielt man Jule für verrückt. Niemand nahm den Weg, der um den Mückenteich herum führte. Er drang tief in den Wald vor, aber jeder wusste, dass außerhalb des Dorfes nichts existierte, das von Bedeutung war. Aus dem Wald kam regelmäßig der Bäckerwagen. Hans hatte einmal beobachtet, wie der Wagen auf dem Waldweg davon fuhr und immer kleiner und kleiner wurde, bis er schließlich vor seinen Augen verschwand. Allen war klar: so wie das Dorf eines Tages aus dem Nichts entstanden war, konnte der Bäckerwagen nur aus dem gleichen Nichts entstanden sein, das alle Formen und Farben, alle Gerüche und Geschmäcker, alle Stoffe und das Leben selbst barg. Und offensichtlich konnte alles auch wieder dorthin zurückkehren.
Das Nichts schien ereignislos. Die Verkäuferin interessierte sich nur für das Wetter; abgesehen von der Zeit als Lothar Schulzes Kuh im Sterben lag. Da kannte man kein anderes Thema, denn der Fall war verdächtig. Noch nie hatte man gehört, dass eine kerngesunde und starke Kuh von einer plötzlichen Schwäche überfallen wurde, nachdem ein Kalb sich seinen Weg aus ihrem aufgeblähten Körper gebahnt hatte. Das Unglück wurde dem Westwind zugeschrieben. Volle vier Bäckerbesuche war das Tier allgegenwärtig. Dann endete es in Pökelfässern, Wurstgläsern und Naturdarm. Die Zähne der Menschen im Dorf kauten eine Weile Rindfleisch statt Schwein und die gewohnten Geschichten aus einer anderen Zeit, die vor allem lag, was jetzt war. Die Verkäuferin unterhielt sich mit ihrer Kundschaft wieder über das Wetter. Dann fuhr sie auf dem Waldweg davon. Der große Bäckerwagen wurde zu einem Spielzeugauto. Dieses Spielzeugauto schrumpfte zwischen dem Blattgrün der Laubbäume zu einem weißen Punkt, der schließlich im grünen Nichts verschwand. Jule wollte herausfinden, wie das Nichts beschaffen war, das sich dort im Wald aufhielt und einmal in der Woche seine Boten ins Dorf aussandte.
Sie verfolgte den staubigen Weg bis zur dritten Eiche. Dieser Baum war im Gegensatz zu den anderen Eichen drall und nicht sehr hoch gewachsen. Jule nannte die Eiche Hanna und stellte sich vor, Hanna wäre ihre Mutter. An ihre richtige Mutter hatte sie keine Erinnerung. Vielleicht gab es diese nicht, so wie es Jules Leben nicht gab bis zu dem Tag, an dem sie bei den Ziegen eingezogen war. Jule schlang beide Arme um den Stamm und konnte die Finger auf der anderen Seite doch nicht zusammenbringen, so füllig war Hanna. Ihre Wange an die rissige Rinde gedrückt, fühlte Jule wie sie eins wurde mit dem braunen Stamm und dem Wald um sie herum. Ein hellgrünes Blatt sank langsam auf ihren Kopf. Es verweilte auf dem struppigen Haar und schenkte ihr Bilder von einem grünen Mechanismus in dem Hanna und sie in dieser Form nur ein Teil der gegenwärtigen Zeit waren, wie sie sich in anderer Gestalt in einem anderen Zusammenhang getroffen hatten und sich wieder treffen und immer eins sein würden.
Hinter Jule räusperte sich jemand und tippte ihr auf die Schulter. Sie erschrak, fand jedoch nur langsam aus dem grünen Urzustand zurück, indem alles Wahrheit war, und die Dinge sich auf erklärliche Weise fügten. Schließlich löste sie ihre Umarmung und wurde wieder Mensch. Sie nahm das Blatt aus dem Haar, küsste es und legte es auf den Boden.
„Ich habe mich verlaufen.“ sagte der Mann und lächelte scheu. „Weißt du, wie ich aus dem Wald herauskomme?“ Jule wunderte sich, dass der Mann den Wald nicht kannte und das Dorf, an dessen Rand sie sich eine Hütte mit zwei Ziegen teilte. Im Jahre neunzehnhundertneunundachzig unserer Zeitrechnung hatte der Besitzer des Gehöftes aufgehört, sich um die Ziegen zu kümmern. Man hatte deren Verwahrlosung kaum bemerkt, bis eines Tages Jule vor der Hütte saß und das weiße Fell der Ziegen kämmte. Sie sagte, die Tiere hätten nach ihr gerufen. Da war allen klar, dass Jule verrückt war, und man ließ sie bei den Ziegen wohnen. Nur der kleine Hans glaubte felsenfest, dass das Mädchen vom Himmel gefallen war und sich dabei den Kopf angeschlagen hatte.
Jule schüttelte ihren Kopf. „Du bist der Wind, nicht war?“ fragte sie. „Nein. Ich heiße Wostok und ich habe mich verlaufen.“ Der Fremde sah in ihr schmutziges Gesicht. Jule dachte bei sich, dass er wohl lügen möge, denn jeder wusste, dass außerhalb des Dorfes nichts existierte als der Wald aus dem die Elemente kamen und der Bäckerwagen. Trotzdem nahm sie ihn mit. Er folgte den Spuren, die ihre Füße im Sand hinterließen. Im Dorf angekommen sagte Jule den Leuten. „Das ist Wostok. Er hat sich verlaufen.“ Doch die Leute schüttelten ungläubig ihre Köpfe. Man verlief sich nicht nach Alvus. Alle waren hier aus dem einen Grund, weil sie waren. Und jeder Tag glich dem ersten. Der Wald schlug den Takt des Lebens und alles vom Erscheinen bis zum Vergehen der Blätter war ein Tag. Die Zeit hatte keinen Einfluss auf das Dorf, denn sie schritt langsamer aus als die Menschen.
Jule nahm den Fremden mit zu ihrer Hütte. Er ekelte sich vor dem Gestank der Ziegen. Doch als die Nacht hereinbrach und sich Tau auf die Gräser senkte, kroch er zwischen Jule und den Tieren ins Heu. Jule spürte, dass der Fremde ein Teil des Nichts sein musste. Er war wie ein unbekannter Vogel, wie ein Blatt aus einem anderen Wald; war vielleicht der Wind, der fremde Gerüche ins Dorf trug, die niemand zu deuten wusste. Und er lag in ihrer Hütte. Sie fühlte sich plötzlich sehr allein. So leise wie möglich rückte sie vom weichen Fell der Ziegen ab und schlängelte sich an deren Köpfen vorbei hinaus in die kühle Nachtluft. Der Mond sah ihr offen ins Gesicht, aber sie senkte den Blick. Dann ging sie hinüber zum Weiher und stieg aus dem Kleid, dass ihr Hans' Mutter geschenkt hatte, nachdem sie sich selbst ein neues genäht hatte. Auf der Wasseroberfläche zeigte sich ihr im silbernen Mondlicht ein schmaler Körper. Jules Beine umspielte sanft die Strömung. Mit der flachen Hand fuhr sie durch das Bild und schöpfte sich danach das gestaltlose Wasser auf ihre Brust, bevor sie ganz in den Weiher hinab sank. Sie wollte sich auf den Rücken legen und auf einem Strahl Mondlichts in den Sternenhimmel eintauchen, wie sie es in wolkenlosen Vollmondnächten immer getan hatte. Stattdessen nahm sie ein wenig Sand in beide Hände und rieb ihre schmutzige Haut ab, bis diese rot wurde und brannte. Dann ging sie zurück zur Hütte. Ihr Herz hämmerte laut gegen die Rippen. Sie knotete Stricke um die Hälse der Ziegen und zog die Tiere nach draußen. Dort schlang sie die Stricke um einen starken Baum und hielt sich die Ohren zu. Nach einer Weile verstummte das missmutige Meckern.
Jule setzte sich neben den Fremden und beobachtete das Flattern seiner Lider. Er konnte nicht schlafen, obwohl er vorgab, regelmäßig und tief zu atmen. Vorsichtig nahm sie seine Hand und legte sie auf ihre Brust. Sie fühlte, wie sich die bisher wenig bedeutsame Wölbung ihres Körpers in seine Handfläche schmiegte. Mit geschlossenen Augen und immer noch vorgeblich schlafend tastete der Fremde nach Jules Hand, um sie zwischen seine Beine zu legen. Seine Finger ruhten warm und schwer auf den ihren. Darunter spannte sich der Stoff der Hose. Sie entzog dem Fremden ihre Hand und beugte sich über sein Gesicht. Dann küsste sie ihn.
„Ich gehe mir dir.“ flüsterte ihr Mund in die Dunkelheit, und ein Windstoß ließ das Holz ächzen. „Du musst mich alles lehren, was du über das Nichts weißt.“ Er nickte zustimmend und breitete sein Hemd auf dem Heu aus. Jule lachte, denn seine nackte Haut schimmerte grünlich wie die des Wassermannes, der sich manchmal mittags am Weiher zeigte. Der Fremde setzte sich, zog unschlüssig die Beine an den Bauch und umschlang diese mit seinen Armen. Jule löste die Umklammerung und legte seine Arme um sich selbst, als wäre er Jule, die im Wald Hanna umarmte. Dann nahm sie ihn in sich auf und wurde eins mit ihm und der Vollmondnacht und dem duftenden Heu. Dabei spürte sie deutlich, wie sie gleichzeitig ein Teil von etwas neuem wurde. Es war weit und unüberschaubar und es machte ihr Angst.
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