August 1989. Gregor gehört zu jenen DDR-Bürgern, denen im Pulsschlag der Geschichte die Ausreise über die Prager Botschaft gelingt. Der Rest ist bekannt. Während Gregor mit zwei Freunden in Prag den legendären Zug besteigen, sind seine Frau Marlis und Tochter Juliane noch in der DDR verblieben, doch sollen beide während der Fahrt durch die DDR in einem Waldstück auf den fahrenden Zug aufspringen. So will es der Plan. Was Marlis gelingt, bleibt ihrer Tochter versagt. Die kleine Juliane stürzt vom fahrenden Zug und schlägt mit dem Kopf auf. So gelangen die Eltern ohne ihr Kind in den Westen, das Mädchen bleibt in der DDR zurück. Sie wird im Wald gefunden und mitgenommen. Aus Juliane wird Jule. Wie alt Jule damals ist, lässt sich nur erahnen. Älter als 10 ist sie wohl nicht. Eine Wende erlebt sie jedoch nicht, da sie durch den Sturz vom fahrenden Zug ihr Gedächtnis verloren hat. Sie weiß nicht mehr viel von dem, was vorher war. Dennoch ist die Geschichte kein zweites "Goodbye, Lenin".
Jule wächst in dem kleinen Dorf Alvus auf, wo man sie für verrückt hält, zumal sie niemandem etwas über ihre Vergangenheit erzählen kann und nicht mal weiß, wer ihre Eltern sind und wie sie selbst mit Nachnamen heißt. Ein bisschen Kaspar Hauser-, ein bisschen Aschenputtel-Schicksal. Jule, das Findelkind, das bei den Ziegen wohnt. Jule schlägt sich durch. Auch wenn manches zäh verläuft, hat sie immer so viel Glück, dass es stets zum Leben reicht. Eine Zeit des Wohnens in der Stadt bringt sie nicht wirklich weiter. Den Pfad der Illegalität verlässt sie rechtzeitig, verdient bald etwas eigenes Geld, das sie fast komplett auf die Seite legen kann. So schnuppert sie mal in das etwas weltlichere Leben hinein, letztlich landet sie jedoch wieder in dem Provinznest Alvus. Mit der ganz großen Liebe klappt es zwar nicht so ganz, aber es findet sich eine "Ersatzlösung".
Zum Schluss gibt es, wenn man so will, ein Happy End. Ist es das, was Jule gesucht hat? Hat sie überhaupt etwas gesucht, wie der Titel des Buches behauptet? Vielleicht ist die, die sich immer nur in Fetzen an Vergangenes erinnern kann, unbewusst auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Ist Jule tatsächlich eine Frau ohne Gedächtnis, oder will sie nur nicht mehr wissen, was einmal war, wie eine Weggefährtin mal behauptet? In Hinblick auf DDR-Vergangenheit sicher für so manchen eine heikle Fragestellung. "Jules Suche" ist der Erstlingsroman der jungen Nachwuchsschriftstellerin Corinna Hein. Auch wenn die Einstufung "Roman" für gerade mal 114 Seiten vielleicht nicht ganz angemessen erscheint, lesenswert ist das Werk der Brandenburgerin allemal. Das dünne Bändchen ist immerhin in 32 einzelne Kapitel unterteilt, was dem Lesefluss nicht unbedingt dienlich ist. Die vielen kurzen Kapitel werden zu schnellen Szenenwechseln genutzt, was es dem Leser auch nicht leicht macht, in die Geschichte hineinzufinden und den Bezug zwischen den einzelnen Personen herzustellen. Aber gerade darin liegt der Reiz des Buches. Die anfängliche Verwirrung löst sich nach und nach auf, so wie sich auch für Jule selbst erst mit der Zeit vieles aufklärt. Die Autorin versteht es auch glänzend, den Leser etwas an der Nase herumzuführen. So fragt sich dieser womöglich, wie und von wem Jule zu einem Kind gekommen ist, bis sich jedoch bald herausstellt, dass Jule hier nur Babysitter spielt. Auch der große Unbekannte wird schnell zum alten Bekannten.
Wessis werden sich mit manchen Ausdrücken schwer tun. Dass eine Schwalbe ein DDR-Moped ist, weiß man vielleicht dank Günther Jauch. Aber was verbirgt sich hinter einem Erfahrer? Richtig, ein Stasi-Spitzel. Zwar sollte Stasi-Spitzeltum nach der Wende keine Rolle mehr spielen, doch einer der Protagonisten folgt auch in diesen Zeiten einfach der Macht der Gewohnheit. Für andere wird die Wende auch zur Erfolgsgeschichte im Kohl'schen Sinne, allerdings muss als Land der unbegrenzten Möglichkeiten mal wieder Amerika herhalten. Corinna Hein ist eine glänzende Erzählerin. "Jules Suche" macht Lust auf mehr. Dann vielleicht auch bei einem Verlag, wo ein Lektorat inklusive ist. Jedenfalls handelt es sich hier noch um eine "Probeauflage" inklusive vieler Rechtschreib- und Formfehler. Auch Namen sind manchmal nicht konsistent geschrieben. Aber das soll den guten Eindruck, den diese Erzählung hinterlässt, keineswegs schmälern. Hier zeigen sich somit auch die kleinen Hindernisse, mit denen Nachwuchsautoren vorlieb nehmen müssen.
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