„Morgen kannst du bestimmt mit nach Hause kommen.“ Roberts Mutter klang zuversichtlich, als sie ihrem Sohn sanft über das Haar strich. „Spätestens übermorgen hat der Arzt gesagt.“ setzte sie hinzu und seufzte.

„Ja, Mama. Ist gut.“ Robert wünschte sich, dass seine Mutter endlich losginge – möglichst bevor ihm Tränen in die Augen schießen würden. Wer lag schon kurz vor Weihnachten mit einem Bänderriss im Krankenhaus!? Er starrte mit zusammengezogenen Augenbrauen auf die kahle Wand und versuchte, nicht zu schniefen. In vier Tagen würde das große Spiel gegen die Auswahl der Goethe-Schule stattfinden - ein Freundschaftsspiel zwar, aber beim letzten Mal hatten sie so haushoch verloren, dass sie seit Wochen hart trainierten, um diese Schmach wieder wett zu machen. Doch vorgestern hatte Roberts Fuß beim Training plötzlich nachgegeben und ein höllischer Schmerz seinen Knöchel durchfahren. Ein Liegegips besiegelte anschließend sein Schicksal. Dabei wünschte er sich nichts sehnlicher, als an diesem Fußballspiel teilzunehmen.

„Ist mir schlecht!“ klang eine dunkle Stimme stöhnend durch den Raum. Am Morgen hatten zwei Pfleger ein Bett herein geschoben. „Hat wahrscheinlich mit seinen Kumpels ein bisschen zu tief ins Glas geguckt, der Opa. Der hält sich glatt für den Weihnachtsmann.“, hatten die Burschen gegrinst und eine rote Mütze über das Fußteil des Bettes gehängt. Das Schnarchen des ziemlich dicken Mannes war erst vor ein paar Minuten einem leisen Stöhnen gewichen.

Roberts Mutter erhob sich zögernd. „Ich geh’ dann jetzt.“ Bevor der Junge seinen Kopf zur Seite drehen konnte, drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange. „Tschüss, mein Großer!“ Robert wischte sich verlegen übers Gesichte. Mit elf ließ man sich nicht mehr vor Zeugen von seiner Mutter küssen. Es war schlimm genug, dass sie immer wieder von dem Fußballspiel angefangen hatte und davon, aus welchen Gründen er nicht traurig sein solle. Dumpf fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Robert versuchte, die Taschentücher auf seinem Nachttisch zu erreichen. Da klopfte plötzlich jemand an die Fensterscheibe.

Er musste sich verhört haben, denn sein Krankenhauszimmer befand sich im vierten Stock. Doch das Klopfen erklang erneut. Mit Mühe konnte der Junge seinen Körper in eine Position drehen, in der sein rechter Arm die blaugraue Gardine fassen und ein Stück zur Seite ziehen konnte. Halb verwundert, halb erschrocken entfuhr ihm ein spitzer Schrei, der den Mann im Nebenbett ruckartig hochfahren ließ. Vor dem Fenster wippten heftig gestikulierend zwei grün gekleidete Männchen mit Zipfelmütze in einem dunklen Holzschlitten auf und ab. „Ist mir schlecht!“ entfuhr es dem Alten zu Roberts Linker wieder. „Lässt du bitte mal meine Gehilfen herein.“ Ächzend erhob er sich aus dem Bett und tastete sich in kleinen Schritten zum Waschraum hinüber, während die Grünröcke wie besessen ins Zimmer winkten.

("Weihnachtsmann im Krankenhaus" - Illustration von Christin König)

„Das gibt’s doch gar nicht!“ dachte Robert, als er wieder einen Gedanken fassen und auch den Fenstergriff erreichen konnte. Das Fenster sprang auf; mindestens so schnell, wie die Gehilfen in den Raum geklettert kamen. „Wir sind hier, um den Weihnachtsmann abzuholen. Er kam heute morgen hierher, um sich Medizin zu besorgen.“, meinten die grünen Zwerge. Aus dem Waschraum drangen Laute, welche eindeutig darauf hinwiesen, dass sich jemandes Mageninhalt in die Toilettenschüssel ergoss. „Hat sich wieder an Plätzchen und Schokolade überfressen.“, flüsterte der eine Zwerg und rollte mit seinen Augen. „Ich überfresse mich nie!“ dröhnte da ein voller Bass aus der Badtür. Mit ein paar Schritten war der beleibte Alte zu seinem Bett gegangen und hatte sich die Mütze übergestreift. „Die letzte Schokolade muss schlecht gewesen sein. Stellt euch vor, ich hätte sie an ein Kind ausgeliefert!“ Die Gehilfen hielten sich ihre Bäuche und kicherten. „Kommt!“, wies er diese an, indem er mit einer Hand auf den Schlitten vor dem Fenster zeigte und mit der anderen ein Medizinfläschchen vom Nachttisch seines Bettes nahm. „Mir geht’s wieder besser und bis zum Heiligen Abend gibt’s noch viel zu tun.“

Robert war der Mund offen stehen geblieben. Zu unglaublich schien, was sich da vor seinen Augen abspielte. Während die Gehilfen vorsichtig zurück in den Schlitten kletterten, hielt ihm der Weihnachtsmann, denn das konnte tatsächlich nur der Weihnachtsmann sein, einen Zettel unter die Nase: „Lieber Weihnachtsmann, ich wünsche mir einen mp3-Player, eine X-Box, neue Fußballschuhe…“ – las er mechanisch vor. „Möchtest du deinen Wunschzettel noch einmal überdenken?“, fragte ihn der rot bemäntelte Alte. Robert nahm das Papier und zerriss es. „Ich habe nur einen Wunsch.“, sagte er leise. „Und den kann mir nicht einmal der Weihnachtsmann erfüllen.“ „Wir werden sehen.“, lächelte dieser und klopfte grüßend auf Roberts Gipsbein, bevor er den Zwergen folgte und sein Schlitten mit einer eleganten Kurve durch die Luft davon glitt. „Das glaubt mir niemand!“, murmelte der Junge, während er die Rentiere zu zählen versuchte.

Durch das geöffnete Zimmerfenster drang eisige Nachtluft in nebligen Schwaden herein. Fröstelnd stand Robert auf, um das Fenster zu schließen. Als ihm dabei plötzlich bewusst wurde, dass sein Gips in zwei Hälften geteilt auf dem Bett liegen geblieben war, sprang er vor Freude hoch in die Luft: „Vielen Dank Weihnachtsmann!“


Der OderlandSpiegel. 22-23/12/2007
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