Der junge Soldat Vincent Höfler schiebt seinen Dienst in der europäischen Armee in Brüssel auf Sparflamme. Überhaupt hat er sich lediglich verpflichtet, um seinen Vater zu ärgern und vielleicht an der Uni der Streitkräfte studieren zu können. Als ihm die begleitende Untersuchung eines Todesfalls auf einem Militärgelände im Osten Deutschlands übertragen wird, macht man ihm deutlich, dass man gerade ihn dort hinschickt, weil er der entbehrlichste Mann weit und breit ist. Für den Krieg am Horn von Afrika, in dem Europa sich gerade befindet, eignet er sich schon gar nicht, wie er gleich zu Anfang des Romans in einer Trainingssimulation eines Kriseneinsatzes eindrucksvoll beweist.
Also begibt sich der Leser mit Vincent auf eine Fahrt in den kleinen Ort Laage und gleichzeitig hinein in eine beängstigend real anmutende Zukunft: Autofahren ist durch hohe Preise für Strom, Diesel und Wasserstoff zum Luxus geworden; die Autobahnen und Straßen sind vom Verkehr befreit. Die europäischen Städte sind gekennzeichnet durch Vorstadtslums aus Baracken und Zelten, wie man sie aktuell in der dritten Welt findet. Kleinere Ortschaften sind bereits unbewohnt und verfallen wie die heutigen Geisterstädte in Amerikas Westen. Alle Menschen sind ganz selbstverständlich mit einem Tagger ausgerüstet, eine Art am Handgelenk zu tragendes Minihandy, das gleichzeitig Ausweis, Zahlungsmittel und Ortungssystem ist - sehr bequem, sehr normal und letztlich ein freiwillig angelegtes Überwachungsinstrument, das selbstverständlich in seinen verschiedenen Ausführungen auch Fashion und hippes Statussymbol sein kann.
In Laage angekommen, wird Vincent schnell klar, dass an dem Tod des alten Mannes einiges faul ist. So lag die Leiche auf der falschen Seite des Zauns, hätte aufgrund einer Thermobekleidung nicht erfrieren können und wurde, wie ihm die Ärztin Anna in der Leichenhalle zeigt, vermutlich durch eine Injektion getötet. Zu dumm, dass die Leiche noch dazu ganz plötzlich verschwindet und man von Vincent trotzdem erwartet, dass er die Ermittlungen im Sande verlaufen lässt. Er weiß, dass er seine Karriere bei der Armee riskiert, aber er beschließt, sich dennoch gründlicher umzusehen. Seine Spurensuche führt ihn zum First Resort, einem Prototyp der zukünftigen europäischen Altenheime. Wie die täuschend menschlichen Ausbildungsroboter, die Vincents Freund Eddy für die Ausbildung von Medizinern konstruiert, begrüßen auch im First Resort auf den ersten Blick nicht als humanoide Roboter erkennbare Maschinen den Ankömmling. Vincent gelingt es, einen Besuchstermin im Inneren der Glaskuppel, die das gigantische First Resort überspannt, zu erhalten. Was ihn dort erwartet, übertrifft alles Vorstellbare: Die dort lebenden ersten 500 Bewohner von zukünftig 5000 sind in eigenen Wohnungen in einer idyllischem Kleinstadt mit Bachlauf, Geschäften und kleinen Kaffees untergebracht - ein Paradies, für das es sich offensichtlich lohnt, sich auf eine Warteliste setzen zu lassen. Doch warum werden die mitgebrachten persönlichen Gegenstände der Bewohner in großen Lagerhallen außerhalb der Kuppel aufbewahrt? Warum begegnet Vincent in der Kuppel dem Toten vom Zaun, der sich offensichtlich bester Gesundheit erfreut? Und warum findet Vincent schließlich auch seinen Vater im First Resort wieder?
Wer sich die Überraschungsmomente des Kriminalromans nicht entgehen lassen möchte, sollte an dieser Stelle nicht weiterlesen (Spoiler!). Doch natürlich kann die schöne neue Welt, die sich die Menschen unter der Kuppel konstruiert haben, nicht das Paradies sein. Dazu ist die Welt darum herum mit totaler Überwachung und der Verfolgung der Opposition zu gegensätzlich charakterisiert worden.
Tatsächlich wird dem Leser aber bei der zweiten Lektüre der Schlüsselstellen klar, dass der Autor ihn ordentlich an der Nase herumführt und man es sogar bemerken könnte. Bereits in der eingangs geschilderten Szene, in der Vincent sich in einer Computersimulation im Krieg befindet, wird deutlich, dass man über sogenannte Datenbänder und Computer von der Realität durch nichts zu unterscheidende Umgebungen und Vorgänge ins Gehirn projiziert bekommen kann. Dennoch wird der Leser bei Vincents Besuch des First Resorts durch Vincents Angst vor Verfolgern und des vorgeblich medizinischen Hintergrunds geschickt von der Ähnlichkeit der Prozedur abgelenkt und bemerkt wie der Protagonist bis fast zum Ende des Romans nicht, dass die Kuppel ein großes leeres Gebäude ist, während die vermeintlichen Gäste des Resorts matrixmäßig an einen Rechner angeschlossen und von Robotern überwacht in einer grünen Flüssigkeit schweben, während sie ihr restliches Leben in einer idyllischen Kleinstadt zu genießen glauben.
Auf diese Art und Weise löst man in Stromiedels Zukunftsvision das Problem der Überalterung der Bevölkerung, und mit Vincent kann man sich fragen: "Wo war ich hier gelandet? Im Horrorkabinet eines Wahnsinnigen oder im Refugium eines Visionärs?" Die Frage wird auf den letzten Seiten durchaus diskutiert, denn Vincent versucht, den Leiter des Resorts dazu zu bewegen, seinen Vater freizugeben, der das First Resort mit einem Altenheim vergleicht: "Waren Sie schon einmal in einem staatlichen Pflegeheim? Haben Sie gesehen, wie die Bewohner dort vor sich hin siechen? Zeigen Sie mir den Menschen, der so alt werden will! Zeigen Sie mir einen Menschen, dem es Spaß macht, hilflos dabei zuzusehen, wie sein Körper verfällt! [...] Schmerzen, Leiden, Not, das gibt es bei uns nicht. Wir ermöglichen alten Menschen ein würdiges Leben, so wie wir es in Ihrer sogenannten Realität niemals tun könnten." Der Resortleiter argumentiert mit der Überalterung der europäischen Bevölkerung, mit den finanziellen Ressourcen, die dafür aufgebracht werden müssen, die alten Menschen zu versorgen und zu pflegen. Schließlich beugt Vincent sich dem Wunsch seines todkranken Vaters, ihn in der künstlichen Umgebung zu belassen, statt ihn zu einem Pflegefall in der Realität zu machen. Trotzdem wird dem Leiter des Resorts, der bisher von der Brillanz seiner Mission überzeugt war, deutlich gemacht, dass seine fragwürdige Alternative zum Altenheim vom Militär, mit dem er wegen der technischen Möglichkeiten bei der Entwicklung des First Resorts zusammengearbeitet hat, auch missbraucht werden kann und wird - als Gefängnis für Regierungsgegner wie Vincent. Dieser muss sich dafür entscheiden, ob er die Simulation des Lebens wählen oder dagegen antreten will. So erscheint der Roman als Zeichen, dass sich mindestens der Autor seinen hoffnungsvollen Blick auf die Menschheit bewahrt hat und seine Hauptfigur bis zum letzten Buchstaben gegen den schönen neuen Schein kämpfen lässt.
Stromiedels Anleihen an Orwell, Huxley und den Film "Matrix" sind unübersehbar. Sie beginnen bei der Darstellung eines umfangreichen totalitären und auf Überwachung ausgelegten Regimes, das seine Gegner mit allen Mitteln bekämpft, gehen über eine als Nebenhandlung eingebaute Romanze mit der Ärztin Anna bis zur Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten unserer Zeit und dem, was daraus erwachsen kann. Stromiedel unterfüttert seine Welt mit der aktuellen Debatte über die Überalterung der Bevölkerung. Es wird nicht mehr mit Gewalt oder Konditionierung gearbeitet, sondern wir gelangen mit Hilfe der Technik dorthin, von wo Neo in der noch ferneren Zukunft der "Matrix" wieder ausbrechen wird: in ein perfektes Leben, an dem nichts Wahres ist.
Der Autor versteht sein Handwerk, denn der Roman ist von der ersten bis zur letzten Seite packend. Da verzeiht man ihm die für die Haupthandlung nicht notwendige, aber vermutlich aus seiner Profession als Drehbuchschreiber heraus eingebaute Verfolgungsjagd und auch den Ausflug des Protagonisten nach Hamburg, welcher der Geschichte das Tempo nimmt und lediglich dazu dient, Elemente des Thrillers, des Kriminalromans und etwas mehr Sex in diese wunderbar beklemmende Dystopie einzubauen. Am Ende bleibt für jeden Leser wieder die Frage, die wir uns 1999 nach "Matrix" schon einmal gestellt haben: "Die rote oder die blaue Pille?"; "Altenheim" oder "First Resort"? und stellen wir uns dieses Mal vor, wir sind bei der Beantwortung der Frage keine jugendlich agilen Dissidenten, sondern alte Menschen an der Schwelle zu Krankheit, Schmerzen und Tod. Das gibt der Frage die richtige Würze.
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