K-“Eine Art heitere Mordgeschichte“

(Kate Atkinson: Liebesdienste, DroemerKnaur, S.493, ISBN 3426197537)

Paul Bradley bremst im Theaterfestivalchaos auf Edinburghs Straßen für einen unachtsamen Raucher. Der nachfolgende PKW fährt auf – ein Unfall; Sachschaden; der Raucher ist längst im Verkehrsgetümmel verschwunden. Nun sind Auffahrunfälle in Schottlands charismatischer Hauptstadt Edinburgh an sich nichts Ungewöhnliches. Doch, dass der Aufgefahrene sich mit einem Baseballschläger sowohl über den anderen Fahrer als auch dessen Auto hermacht, und nur durch das beherzte Eingreifen eines sonst eher zurückhaltenden Krimiserienschriftstellers namens Martin Canning gerettet werden kann, kommt nicht so häufig vor.

Gloria Hatter ihrerseits mit einer nicht liebenden Familie geschlagen und inzwischen auch nicht glücklich mit einem Mann verheiratet, der zudem mit seiner Baufirma mafiösen Dreck am Stecken hat, ist mit ihrer Freundin Pam als Zeugin bei diesem Unfall zugegen. Doch die ermittelnde Polizei muss feststellen, dass sich offensichtlich niemand – auch die beiden Freundinnen nicht – an die Autonummer des schlägerbewehrten Hünen erinnern können.

Nur Jackson Brodie, seines Zeichens „Exsoldat, Expolizist, Exprivatdetektiv“ und „Treibgut“ in einer zweijährigen Beziehung mit der energiegeladenen Theaterregisseurin Julia, merkt sich die Autonummer, doch verlässt er den Ort des Geschehens bevor die Polizei seine Aussage aufnehmen kann.

Solchermaßen führt die schottische Schriftstellerin Kate Atkinson diese und weitere Figuren ihres Romans ein. Sie verfolgt deren Leben als scheinbar eigenständige Handlungsstränge, die sich gelegentlich ebenso scheinbar berühren und deren gemeinsamer Schnittpunkt besagter Autounfall ist. So gelingen ihr psychologisch ausgefeilte Personenzeichnungen und Beziehungsgeflechte sowie eine Milieustudie des zeitgenössischen Edinburghs, welche deutlich die Einheimische in Atkinson erkennen lassen. Alles schön und gut. Aber wo bleibt der Mord, die Leiche, das Verbrechen ohne das ein Krimi bekanntlich nicht auskommt?

Der Leser wird in dem mehr als 400 Seiten fassenden Wälzer auf eine harte Probe gestellt. Erst nach einhundert Seiten wird eine weibliche Leiche in Edinburghs Vorort Cramond an den Meeresstrand gespült. Bis dahin langweilt sich der Leser mit Jackson Brodie, welcher sich ganz der Schwermut trüber Erinnerungen an sein Leben hingibt. Doch die unbekannte Frau, welcher eine Visitenkarte aus dem BH ragt, auf der nur eine Handynummer und die Worte „Hilfe - stets zu ihren Diensten!“ stehen, weckt den Spürsinn in ihm. Brodie beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und ist dabei, wie es sich für einen richtigen Detektiv gehört, der Polizei immer um eine Naselänge voraus. Als seine Ermittlungen bereits kurz vor dem Abschluss stehen, weil Brodie herausgefunden hat, wer und was sich hinter der Visitenkarte verbirgt, nimmt die Handlung noch einmal eine überraschende Wendung und nun ist auch der Detektiv selbst in Gefahr.

Wer also einen reinen Krimi erwartet, wird mit diesem Roman enttäuscht werden. Wie bereits in ihrem vorangegangenen Werken eröffnet die Autorin ein Panorama von lebendig gezeichneten und tiefgründig ausgearbeiteten Charakteren. Wie Brodie sind diese oft durch ihren familiären Hintergrund traumatisiert oder mindestens fließt er negativ in ihre Beziehungsfähigkeit und ihr Alltagserleben ein. Diese Faszination für den Einfluss der Familiengeschichte auf das Leben ihrer Protagonisten wurde bereits in ihrem Erfolgsroman „Familienalbum“ deutlich, für welchen sie 1996 den Whitebread First Novel Award erhielt.

Den aus London stammenden Detektiv Brodie führte Atkinson in ihrem Roman „Die vierte Schwester“ ein, der mit dem gleichen Mythos von der heilen Familie oder intakten Beziehung spielt, der auch in „Liebesdienste“ immer wieder ironisch ad absurdum geführt wird. Das ist durchaus alles sehr ambitioniert. Dennoch verwirrt es diejenigen Leser, die mit einer traditionellen Erwartungshaltung an dieses Werk der Kriminalliteratur herangeht.

Technisch gesehen ist der Roman hervorragend aufgebaut. Die einzelnen Handlungsstränge werden fast unmerklich miteinander verwoben, bis auch dem Leser ein klares zusammenhängendes Bild vor Augen steht. Die Exkurse in das Schriftstellerleben von Martin Canning lassen von Ferne die meta-theoretische Auseinandersetzung mit Kriminalliteratur sowie mit der eigenen Berufsgenese der Autorin anklingen, die ebenfalls zunächst einer völlig anderen Arbeit nachging und erst relativ spät zum Schreiben kam. Und doch wünscht man sich, Atkinson hätte den Auffassungen des Verlegers, die da hieß, man könne eine liebevolle Verneigung vor der Vergangenheit, eine Art heitere Mordgeschichte verkaufen – am besten in Serie, sowie ihrer Schriftstellerfigur Canning mehr Aufmerksamkeit geschenkt Für die Ambitionen, welche Atkinson mit ihrer sozial-psychologischen Ausarbeitung verfolgt, ist die Form des Kriminalromans nicht richtig gewählt.

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veröffentlicht auf literaturreport, 2008
Copyright © 2008 Corinna Hein