Reifeprüfung auf Polnisch

(Antoni Libera: Madame, DTV, München, 2000, S. 494, broschiert, ISBN3-423-12974-3)

Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2000 wurden einige Werke polnischer Autoren ins Deutsche übersetzt und erstmals einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Unter ihnen war auch Antoni Liberas Roman "Madame", der bereits die Kritiker im englischsprachigen Raum zu Begeisterungsstürmen verleitet hatte: „Würde er niemals ein anderes Buch schreiben, es würde nichts ausmachen. Seinen Platz in der Weltliteratur hat er bereits mit diesem Buch erlangt; so geistreich aufgebaut und über alle Maßen inspiriert - es fordert keine Besprechung, sondern Anbetung.” jubelte Sheila Farr im "San Francisco Sunday Examiner".

Antoni Libera, der 1949 in Warschau geboren wurde, graduierte an der Polnischen Akademie der Wissenschaften und arbeitet zur Zeit als Schriftsteller, Übersetzer und Theaterregisseur. 1989 bekam er den "Preis des Ministeriums für Kultur" und den "Spezialpreis der polnischen Vereinigung der Übersetzer" für seine Übersetzungen von Becketts dramatischen Arbeiten, von denen er zwischen 1995 und 1997 einige am Warschauer Teatr Dramatyczny inszenierte. Seine eigene literarische Karriere begann 1990, als er als Dramatiker am "Royal Court Theatre" in London mit dem Stück "Eastern Promises" debütierte. Acht Jahre später kam sein erster Roman "Madame" heraus und wurde aus mehr als 300 Einsendungen für den 1. Preis der Znak-Publizisten ausgewählt. Noch heute verkauft sich der Roman mit beachtlichem Erfolg und wurde ein internationaler Bestseller.

„Madame” ist angesiedelt im Polen der frühen 60er Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Stalinära ist gerade vorbei, auch die Tumulte von 1956, die Periode des Tauwetters hat begonnen und die 68er Revolution ist noch nicht vorauszusehen. In dieser Periode der "kleinen Stabilisierung" fühlt sich der Protagonist des Romans als zu spät geboren, hinein in eine langweilige Periode der polnischen Geschichte.

Die Stimmung, die Libera auf der ersten Seite erzeugt, durchzieht als Grundstimmung den Roman: Es ist die auf eine vergangene Zeit mit ihren typischen Zeitumständen gerichtete Nostalgie. Der namenlose Ich-Erzähler muss ironisch feststellen, dass er überall zu spät gekommen ist: Seine Klavierlehrerin hält ihm vor, dass nach Mozart und Beethoven keine gute Musik mehr geschrieben wurde. Auch das Schachspiel hatte seine Vollkommenheit bereits Jahre vor dem Protagonisten erreicht. Deshalb findet der Leser einen Erzähler vor, der sehnsuchtsvoll jedoch nicht ohne Ironie in der kulturellen Vergangenheit Europas schwelgt. Nicht umsonst heißt das erste Kapitel "Früher, das waren Zeiten!"

Liberas Protagonist verliebt sich in seine geheimnisumwitterte Französischlehrerin und beginnt ihr und ihrer Familiengeschichte kriminalistisch nachzuspüren. Im Laufe dieser Nachforschungen, die ihm deutlich die Missstände in der sozialistischen Ära vor Augen führen, entwickelt sich der Protagonist von einem ziellosen und unreifen Jüngling zu einem jungen Mann, der seinen Lebensweg gefunden hat, diesen jedoch außerhalb Polens beschreiten muss. Die Relation von Gegenwart und Vergangenheit verschiebt sich in Liberas Gattungsmix aus Romanze, Initiationsroman und Gesellschaftssatire zu Gunsten der Gegenwart, da diese immer bedeutender wird, je umfassender der Erzähler in der Suche nach Madames Geheimnis aufgeht.

Zum Schluss muss der Ich-Erzähler erkennen, dass alle seine Informationen über Madame wenig verlässlich sind. Zudem haben sich Gerüchte verselbständigt und einen Schulmythos von einer Affaire zwischen einem Schüler und einer Lehrerin erschaffen, obwohl es zwischen dem Erzähler und seiner Französischlehrerin bis zum Ende des Romans entgegen aller Konventionen nicht einmal zu einem Kuss kommt. Spätestens jetzt beginnt man zu verstehen, was Madame mit ihren Worten von einer „Theorie der Relativität... der Sprachen“ gemeint hat. „Am Anfang war das Wort“ - zitiert eine Kapitelüberschrift die Bibel. Die Worte in „Madame“ sind Anfang, Mitte und Schluss zugleich. Sie erschaffen sich eigene Realitäten, in denen Liebe und Leidenschaft in Worte gefasst ausgelebt werden können. Sie müssen sich jedoch an der Lebenswirklichkeit brechen, wenn das Stadium erreicht ist, in dem man mit Goethe rufen möchte: „Der Worte sind genug gewechselt. Laßt mich doch endlich Taten seh'n!“ Die Liebe in Worten und Gedanken, so perfekt sie auch erscheinen mag, kann nicht in die Realität umgesetzt werden. Gerade daher bleibt sie auf ewig vollkommen, und auch ihr Mythos überdauert.

Libera verwendet in seinem Roman postmoderne Erzählstrategien. Damit spricht er den intellektuellen Leser an. Doch die literarischen Finessen des Autors bewirken nicht, dass der Roman nur für ein erfahrenes Publikum interessant ist. Vielmehr setzt Libera genau das um, was er in dem Schopenhauerzitat, das dem Roman als Motto voran gestellt wurde, postuliert: Er macht einen wunderbar lesbaren Roman mit unterschwelligem Humor aus einer kleinen Begebenheit. Er zeigt, dass das tägliche Leben die Menschen zu jeder Zeit mit dem Stoff versorgt, aus dem Helden geboren werden. In diesem Sinne ist "Madame" ein Roman über die alltäglichen Dinge des Lebens: über Gesellschaftssysteme, über Stärke und Schwäche sowie über den Konflikt zwischen dem geistigen Ideal der Liebe und der physischen Realität.

Hat man einmal angefangen zu lesen, fällt es schwer, den Roman wieder aus der Hand zu legen, denn so bedeutsam die Sprache für den Plot ist, so virtuos geschliffen ist auch die Sprache des Autors, welche die Leseraugen über Sätze, die sich melodiös aneinander reihen, hinweg gleiten lässt. Doch selbst nach mehrmaligem Lesen kommt meine rotbraun gehaltene Taschenbuchausgabe ansehnlich daher. Die Frau auf dem schwarz-weiß-Foto des Covers strahlt ohne Knitterfalten immer noch das aus, was in dem Wort „Madame“ mitschwingt: französische Kultiviertheit und Lebensart. Alles in allem ist der Roman auch vier Jahre nach seiner deutschen Erstauflage genau das Richtige für verregnete Spätsommertage.


 
  veröffentlicht auf ciao.com, 2004
Copyright © 2004 Corinna Hein