Auch in der Moskauer Metro haben Menschen überlebt; unter ihnen der zwanzigjährige Artjom. Dieser wohnt mit seinem Ziehvater Suchoj in der Station WDNCh. Man hat sich in dem neuen Leben eingerichtet und es so organisiert, dass das Überleben gesichert ist und ein Mindestmaß an menschlicher Kultur bewahrt werden kann. Artjom ist zwischen seinen Freunden, alten Büchern, Schweinezucht und Pilztee aus dem Samowar behütet aufgewachsen. Abgesehen von einem verbotenen Ausflug an die Oberfläche nahe seiner Metrostation, hat er die WDNCh nie verlassen. An die Außenwelt hat er nur noch vage Erinnerungen, und auch die Dimensionen der Moskauer U-Bahn-Anlage haben sich ihm längst nicht erschlossen, obwohl über Reisende (vornehmlich Händler) Nachrichten aus anderen Stationen und deren Beschreibungen bis in die eher als abgelegen geltende Heimat des jungen Mannes gelangen.
Als jedoch eine ganze U-Bahn-Station von den so genannten Schwarzen massakriert wird und diese sich auch in der Nähe der WDNCh zeigen, wird schnell klar, dass nicht nur diese Station, sondern die gesamte Metro bedroht ist. Plötzlich ist es an Artjom, die Metro zu durchqueren und Hilfe zu holen. Aber neben der Tatsache, dass er die gesamte Strecke auf sich allein gestellt zu Fuß bewältigen muss, kommt erschwerend hinzu, dass sich die Menschen selbst nach der atomaren Katastrophe nicht zu einer Einheit zusammengeschlossen haben, sondern die Kriege unter der Erde fortgeführt wurden, bis sich verschiedene Macht- und Einflussgebiete herauskristallisierten, welche nun mit Hilfe von Abkommen, Kontrolle und notfalls auch nackter Gewalt gehalten werden. In den finsteren Tunneln zwischen den Stationen verschwinden oder sterben Menschen auf unerklärliche Weise. In den Stationen selbst regieren Angst, Hass und Grausamkeiten, die jedoch nicht weniger beängstigend wirken als die aufgesetzte Liebenswürdigkeit der Zeugen Jehovas, welche Artjom zu bekehren versuchen, oder das nur für einige Menschen Bildung verheißende Kastenwesen der Polis.
Auf knapp 800 Seiten beschreibt der russische Autor Dmitri Glukhovsky solchermaßen nicht nur Artjoms Weg durch die Tunnel und die verschiedenen Metrostationen, sondern auch Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichsten Gesellschaftsformen sowie mit verschiedensten Lebensentwürfen. Die Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens werden überwiegend von Strömungen, die noch im 20. Jahrhundert existierten, abgeleitet: Kommunismus, Nationalsozialismus oder religionsbegründete Gemeinschaften. Außerdem hat man tief im Inneren der Metro die neue Religion um den "großen Wurm" erschaffen.
Somit entwirft der Autor neben einer spannenden Handlung ein komplexes Bild der in Grüppchen zerfallenen Gesellschaft, welche sich nach der Katastrophe in den Stationen der Metro geformt hat. Ein solches räumlich abgeriegeltes System zur Darstellung einer möglichen zukünftigen Gesellschaft, in welcher Ursachen und Wirkungen vom Autor genau berechnet werden können, kennt die Literatur seit Thomas Morus' Insel "Utopia" (1516). Glukhovskys Metro-Universum funktioniert als ebensolche Insel, auf der sich das alte Leben zu erhalten versucht, während ringsum die Bedrohung durch Mutanten und neue Lebensformen verhindert, dass die Menschen aus ihrem selbst gewählten Exil ausbrechen können. Alle übergeordneten Energien werden dazu verwendet, dieses Universum zu schützen, während die Stations-"Kleinstaaten" auch individuell gegen Eindringlinge und Veränderung vorgehen.
Erst zum Schluss wird offensichtlich, dass die alten Fehler der Menschheit wiederholt werden und in erneuter Vernichtung gipfeln. Es bleibt außen vor, ob eine Kooperation mit den auf noch wenig erklärliche Weise kommunizierenden neuen Lebewesen vielleicht hilfreicher als ihre Vernichtung gewesen wäre, denn immerhin ist es ihnen vergönnt, auf der Erdoberfläche existieren zu können. Doch mit dem Tod der weiterentwickelten Spezies wird es auch in dieser negativen Utopie keine Entwicklung geben können. Es besteht wenig Hoffnung auf Veränderung oder gar eine Verbesserung der Lebensumstände der Menschen, selbst wenn eine Figur namens Kahn dem Helden versichert, dass wer kühn und beharrlich genug sei, ein Leben lang in die Finsternis zu blicken, darin als Erster einen Silberstreif erkennen würde.
Den Menschen in Glukhovskys Metro-Universum steht Technik nur noch in Form von Relikten aus der Vergangenheit zur Verfügung; ausgehend vom weit entwickelten technischen Verständnis unserer Tage, sind sie damit auf die Stufe der Produktion von Nahrungsmitteln zurückgeworfen worden. Der kulturellen Entwicklung ist es nicht anders ergangen. Alte Bücher sind wertvolles Handelsgut, und selbst die erbärmlichste Schwarte wird gehegt und gepflegt, denn auch sie ist zum vergänglichen Bewahrer des Wissens der Menschheit und des Wissens um eine vormalige bessere Zeit geworden, welche in der Erinnerung bereits märchenhafte Züge annimmt. Sie sind ein Symbol der Errungenschaften des menschlichen Geistes, in denen sich die gegenwärtige menschliche Existenz der sich unter die Erde verkrochen habenden Würmer auf groteske Art spiegelt.
Die Klassiker bilden dabei den größten Schatz, denn sie tragen moralische Werte und nähren den Wunsch nach Veränderung. Sie können jedoch nur die Keime anlegen, welche in Menschen wie Artjom, Khan oder Melnik, den Artjom zur Hilfe holen soll, zur Entfaltung kommen. Es gibt nur wenige Menschen wie sie, die nicht ihren gesamten Antrieb und ihre Struktur aus einer der gesellschaftlichen Strömungen angepassten Lebensweise erhalten. Diese Menschen werden zu Helden, denn so verführerisch der Halt oder die Orientierung der angebotenen Lebensweisen auch erscheinen mögen, ist es ihnen vergönnt, darüber hinauszuwachsen. Dazu trägt die Tatsache maßgeblich bei, dass sie sich sowohl in der gesamten Metro als auch außerhalb bewegen. Die so gewonnenen Erfahrungen erlauben ihnen einen kritischen Außenblick auf das gesamte Metro-Universum. Kommen sie dabei der Frage nach der Wahrheit auch nicht wesentlich näher, so können sie dennoch erkennen, dass alles Dargebotene nicht der Wahrheit entsprechen kann.
Besonders interessant gestaltet Glukhovsky die unbekannte Kultur, welche sich in Nebentunneln der U-Bahn formiert hat. Dort haben die veränderten Lebensbedingungen der Menschen eine an die Situation unter der Erde angepasste Religion hervorgebracht. Diese basiert auf dem Mythos des "Großen Wurms" als sich durch die Erde bohrendem Schöpfer. Er gilt als Vater, der alle Anhänger der Religion erschaffen haben soll. Diese fürchten ihren Gott und suchen durch seine Anbetung doch gleichzeitig seinen Schutz. In der archaischen Erscheinung des "Großen Wurms" erkennt der Leser sofort, dass es sich um die 'Personifizierung' eines U-Bahn-Zuges handeln muss. Die Erfinder hatten sicherlich noch lebhafte Erinnerungen an Züge, deren geöffnete Türen die Fahrgäste ausspeien. Diese zunächst lächerlich-zwanghaft anmutende Religion bildet traurigerweise die einzige Innovation unter Tage und wurde auch nur dazu erfunden, die geistig und körperlich degenerierten Menschenwesen, welche in einem von der Strahlung stark betroffen Bereich der Metro leben und sich fortpflanzen, unter Kontrolle zu halten und ihnen einen Lebenssinn zu geben, damit ihre charismatischen Anführer ihre Version einer besseren Menschheit verwirklichen können. Doch outet der von Artjoms Truppe gefangene Priester sich und seine Religion alsbald als vom Hass auf alle anderen überlebenden Menschen zerfressene und ebenso große Bedrohung für die restliche Metro wie die Schwarzen, die es jedoch zunächst zu bekämpfen gilt.
Leider wirken alle Geschehnisse ab der Bekanntschaft mit dem "Großen Wurm" auf eine Fortsetzung ausgelegt, denn zu vieles wird nur noch angedeutet. Die Reise durch die Metro erscheint plötzlich als eine lange Einführung in die "neue Welt". Werden sich die Menschen weiterhin gegenseitig aufreiben? Gibt es den "Großen Wurm" vielleicht tatsächlich? Existiert er als etwas völlig anderes in der Metro - zum Beispiel als großer Bohrer, der dazu benutzt wird, neuen Lebensraum anzulegen? Da man nicht weiß, was alles möglich sein könnte, ist nichts unmöglich - selbst ein riesiges Tier oder ein noch fahrtüchtiger Metro-Zug.
Die Vernichtung der Schwarzen wirkt im doppelten Sinne unbefriedigend. Abgesehen von der moralischen Komponente (alles Fremde wird wie immer ausgelöscht), hat Artjom seine "Auserwähltheit" als Vermittler zu spät begriffen. Doch ebenso gut könnte die Auslöschung der Fremden nur auf der Erdoberfläche erfolgt sein. Da man von den Wesen so gut wie nichts erfährt, können sie durchaus in einem Zusammenhang mit den Bohr- oder Zuggeräuschen stehen, welche Artjom in einem der Nebentunnel gehört haben will. Außerdem hat sich ein aus einer wabernden Masse bestehendes Wesen im Kreml eingenistet, das die Menschen hypnotisch anzieht und verschlingt.
Und nicht zuletzt heißt es auf der letzten Seite vor einem umfassenden Anhang mit Begriffserklärungen: "Die Reise geht weiter". Hoffen wir es, und hoffen wir auch, dass die mögliche Fortsetzung ebenso fesselnd und originell wird wie "Metro 2033". Der Roman hat jedenfalls so stark eingeschlagen, dass ein auf ihn basierendes Computerspiel in Planung ist, und denkt man an die "Wächter"-Trilogie des auf dem Umschlag des recht robusten Heyne-Paperbacks zitierten Sergej Lukianenko, dann kann man eine Verfilmung wohl ebenso wenig ausschließen.
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