| Mit viel Gefühl für die leisen Töne und einer Fülle von Details   beschreibt die Tochter eines Geistlichen, die wegen des frühen Tods   ihrer Mutter bei ihrer Tante in Knutsford aufwuchs, in "Die Schafscherer   von Cumberland" einen Ausflug zur Schafschur auf einen Bauernhof. Diese   Erzählung erschien wie viele von Gaskells Kurzprosa zum ersten Mal in   Charles Dickens' Wochenmagazin "Household Words" und zeigt eine   verschworene ländliche Gemeinschaft, deren Tradition zu Beginn des 19.   Jahrhunderts bereits durch die beginnende Industrialisierung und die   Modernisierung der Landwirtschaft in Vergessenheit zu geraten drohte. 
 Ist diese erste Erzählung noch mäßig spannend und eher historisch   wertvoll, wird es mit "Cousine Phyllis" bereits interessanter. Die   Autorin schreibt aus der Perspektive des jungen Technikers Paul Manning,   der seinen Vorgesetzten Holdsworth in die Familie seiner Tante   einführt. Der Onkel ist wie Gaskells Großvater Bauer und Priester   zugleich. Arbeit und Religion gehen bei ihm somit Hand in Hand und seine   gesamte Familie ist mit dem Land und der Gemeinde verwachsen. Man lebt   im Einklang mit der Natur und im Rhythmus der Jahreszeiten. Zwischen dem   Eisenbahntechniker Holdsworth und der klugen belesenen Phyllis   entspannen sich zarte Bande, die jedoch durch Holdsworth' plötzliche   Abreise nach Kanada abrupt zertrennt werden, noch bevor eine Beziehung   beginnen konnte. Um seine tieftraurige Cousine zu trösten, erzählt Paul   ihr von Holdsworth impulsivem Geständnis seiner Liebe für Phyllis ihm   gegenüber, worauf sie, auf diese Worte vertrauend, daran glaubt, dass   Holdsworth zurückkommen wird, um sie zu freien. Als sie die Nachricht   von seiner Heirat in Kanada erreicht, wird sie todkrank, doch nach   langer Krankheit findet sie zum Leben zurück und geht gestärkt aus   dieser Krise hervor. Die Schilderung aus der Sicht des jungen Mannes   bietet dem Leser dabei die Möglichkeit, mit Pauls jugendlich unreifen   Augen auf Phyllis und ihre Familie zu schauen. Gleich Paul wird er zum   Beobachter der ländlichen Idylle. Die genaue Beschreibung der   Nachmittage in der großen Stube des Bauernhauses mit der zum Fenster   herein scheinenden Sonne, der Handarbeiten ausübenden Tante und der in   ihre Bücher versunkenen Phyllis und ihrem Vater lesen sich wie die   Beschreibung eines Gemäldes der alten Meister. Hier zeigt sich das große   Darstellungsvermögen einer gereiften Autorin, der es gelingt, mit   Worten zu malen.
 
 Den Höhepunkt bildet jedoch die witzige Titelgeschichte "Mr. Harrisons   Bekenntnisse". Der junge Arzt Dr. Harrison, der in London aufgewachsen   ist, zieht in das kleine Provinzstädtchen Duncombe, um Partner des   dortigen Arztes zu werden. Die relativ abgeschlossene Gemeinschaft des   Ortes lebt beschaulich vor sich hin und gewinnt allein durch Klatsch und   Tratsch eine gewisse Dynamik. Da stürzt man sich natürlich förmlich auf   den Abwechslung versprechenden Neuankömmling. Die Frauen von Duncombe   sind dabei allesamt bekannte Typen. Es gibt eine verwitwete   Haushälterin, eine Tochter, die von ihrer Mutter mit dem jungen Mann   verkuppelt werden soll, die unaufdringliche Pfarrerstochter Sophy, in   die sich der Arzt schließlich verliebt, und viele mehr.
 
 Die Ratschläge des alten Arztes befolgend, verhält Harrison sich nett,   geduldig und freundlich zu allen Personen und merkt nicht, dass   vornehmlich die Frauen des Ortes die Kontrolle über sein Leben   übernehmen, sodass er zuletzt nicht einmal mehr über seine Freizeit   entscheiden kann und schließlich angeblich mit drei Frauen gleichzeitig   verlobt sein soll, womit er seine Karriere sowie seine wirkliche Liebe   aufs Spiel setzt. "Ich stellte fest, daß meine Praxis schlechter   ging. Ich hatte die Voreingenommenheit der ganzen Stadt gegen mich ...   Es hieß - grausame Kleinstadt! -, daß meine Nachlässigkeit oder   Unfähigkeit an Walters Tod schuld war, daß Miss Tyrell infolge meiner   Behandlung kränker wurde und daß John Brouncker durch mein Ungeschick   beinahe gestorben wäre - wenn er nicht schon tot war."
 
 Die ironische Beschreibung der Personen bei ihren Teekränzchen und auf   Ausflügen erinnert an Jane Austen. Auch bei ihr trachten die Frauen der   Oberschicht einzig danach, sich gut zu verheiraten, und richten ihr   ganzes Leben danach aus, einen Mann zu finden. In der traurigen Episode   vom Tod von Sophys Brüderchen Walter verarbeitet Gaskell möglicherweise   den Verlust des eigenen Sohnes. Doch Sophy, die ebenfalls schwer   erkrankt, kann von Harrison durch eine neuartige Medizin geheilt werden.   So ist nach der Wiederherstellung des Vertrauens in die Fähigkeiten des   jungen Arztes sowie der Aufklärung der zahlreichen Missverständnisse   mit einhergehender Wiederherstellung seines guten Rufs endlich der Weg   für die wahre Liebe frei.
 
 Während ihre Zeitgenossen Dickens und Tennyson den meisten   Literaturinteressierten bekannt sein dürften, ist Elizabeth Gaskell   außerhalb Großbritanniens etwas in Vergessenheit geraten. Doch für den,   der Jane Austen oder die Brontës mag, lohnt es sich, auch die fünffache   Mutter, die zeitlebens einen großen Haushalt führte und die damit   zusammenhängenden Aufgaben mit einer Schriftstellkarriere verbinden   konnte, kennen zu lernen. Sie hat ein umfangreiches Werk (sieben Romane,   40 Erzählungen und eine Biografie über ihre Freundin Charlotte Bronte)   hinterlassen. Ihre Prosa beweist psychologisches Feingefühl, ein   meisterhaftes Erdzähltalent sowie einen unverstellten Blick auf die   Veränderungen durch die Industrialisierung, der sie gleichzeitig zur   Chronistin ihrer Zeit macht. Manesses Erzählband bietet in   bewährter Qualität mit Leineneinband, Lesebändchen und Schutzumschlag   einen guten Einstieg in dieses Werk.
 
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