Was ich heute zu erzählen habe, wird manchem vielleicht unglaublich vorkommen. Aber so wahr der Weihnachtsmann jedes Jahr mit seinem Rentierschlitten und einem Sack voller Geschenke durch die Luft saust, so sicher hat sich die Geschichte genauso zugetragen, wie sie hier erzählt wird:
Vor ein paar Tagen war ich wie in jedem Jahr im Wald unterwegs, um einen stattlichen Weihnachtsbaum für unser Wohnzimmer zu schlagen, da dröhnte plötzlich ein eigentümliches Röhren durch die Stille des Waldes. Erschrocken sprang ich hinter eine knorrige Kiefer am Wegesrand, und lugte vom sicheren Versteck aus vorsichtig den Weg hinunter, wo das merkwürdige Röhren sich langsam in ein Knattern verwandelte und immer näher zu kommen schien. Tatsächlich war nach wenigen Minuten ein klobiges Gefährt, auf dem ein bärtiger Alter in einem roten Mantel saß, auf dem Waldweg zu erkennen. Das holperige Knattern des Fahrzeugs, welches ich nun deutlich als Motorschlitten erkannte, ging in ein hustendes Röcheln über. Der Motorschlitten hüpfte daraufhin mehrere Male leicht in die Höhe, bis das Husten ganz plötzlich in einem ohrenbetäubendem Knall endete, und jegliches Geräusch erstarb.
Erschrocken stieg der rotbemäntelte Alte aus seinem Sitz und gab dabei den Blick auf einen braunen Sack frei, der hinter dem Sitz befestigt war. Ratlos umrundete er sodann seinen Motorschlitten, klopfte ein paar Mal auf die Haube und trat leicht mit dem Fuß gegen eine Kufe, wobei ein dunkler Lederstiefel unter seinem langen Mantel sichtbar wurde. Dann schüttelte der Bärtige den Kopf, ließ sich in den Schnee sinken und vergrub das Gesicht in seinen breiten Händen.
Wie er so verzweifelt neben seinem Motorschlitten saß, konnte ich nicht länger an mich halten und verließ mein Versteck. „Guten Tag," sagte ich, „kann ich helfen?" „Nein." antwortete er. „Mir kann niemand mehr helfen. Weihnachten fällt aus und damit basta!"
„Warum sollte Weihnachten ausfallen?" fragte ich erstaunt, war ich doch gerade unterwegs, um einen Baum zu holen. In den Geschäften lief der Weihnachtsverkauf bereits seit Monaten. Seit ein paar Tagen duftete es überall verlockend nach Plätzchen, und alle Leute hatten ihre Häuser und Wohnungen festlich geschmückt. Nichts deutete darauf hin, dass das Weihnachtsfest in diesem Jahr nicht gefeiert werden würde. Und doch wiederholte der alte Mann, während er seinen riesigen Sack vom Motorschlitten hob: „Weihnachten fällt aus. Ich muss es wissen. Ich bin schließlich der Weihnachtsmann."
„Aber wie? Aber was?" stotterte ich verdattert. „Weihnachtsmann? Wenn du der Weihnachtsmann bist, kannst du doch nicht das schönste Fest des Jahres absagen!"
Der Weihnachtsmann warf sich unter großer Anstrengung den Sack über die Schulter. „Du siehst doch, dass dieser Motorschlitten seinen Geist aufgegeben hat. Wie soll ich es jemals schaffen, die Geschenke auszutragen, wenn ich überall zu Fuß hingehen muss?" sagte er traurig und wandte sich zum Gehen. Mit ein paar Schritten hatte ich ihn erreicht und packte ihn am Mantel. „Wo ist denn dein Rentierschlitten? Damit hast du es immer geschafft, überall pünktlich zu sein." Schnaufend setzte er den Sack wieder neben sich ab und erzählte mir folgendes: „Meine Rentiere streiken seit einer Woche. Sie beklagen sich, dass der Sack mit den Geschenken von Jahr zu Jahr schwerer wird, und wollen den großen Schlitten mit den unzähligen Weihnachtsgeschenken nicht mehr ziehen."
Nun verstand ich, warum der Weihnachtsmann so verzweifelt war. Ohne seine Rentiere und mit einem kaputten Motorschlitten würde er es niemals schaffen alle Geschenke in einer Nacht zu verteilen. „Ich könnte versuchen, den Schlitten anzuschieben." bot ich daher an und stellte mich gleich tatkräftig ans Schlittenende. Der Weihnachtsmann blickte abschätzend auf meine schmächtige Statur, aber schließlich sagte er: „Einen Versuch ist es Wert." und setzte sich auf den Schlitten. Mit aller Kraft stemmte ich mich also gegen den Schlitten. Einmal. Zweimal. Dreimal. Aber so sehr ich auch schob und drückte, der Motorschlitten rührt sich nicht vom Platz. Auch als der Weihnachtsmann kopfschüttelnd abstieg und ebenfalls zu schieben half, bewegte sich das Gefährt keinen Millimeter.
„Weihnachten fällt aus." sagte der Weihnachtsmann nun zum wiederholten Male und gab das Schieben auf. „Der Schlitten ist kaputt. Selbst reparieren kann ich ihn nicht, und ein Mechaniker kommt hier bestimmt nicht vorbei." Dagegen konnte man nichts mehr einwenden. Es schien ausweglos. Weihnachten war abgesagt. Gerade als ich dem Weihnachtsmann helfen wollte, seinen Sack auf den Rücken zu heben, glaubte ich das schwache Läuten von Glöckchen zu vernehmen. Tatsächlich schwoll das Läuten in wenigen Sekunden immer mehr an, so dass auch der Weihnachtsmann aufhorchte. Wieder ließ er seinen Sack neben sich in den Schnee hinunter, wobei sich dieses Mal ein Lächeln in seinem mächtigen Bart ausbreitete. „Sie kommen." rief er und lachte. „Hohoho! Ich wußte, sie würden mich nicht im Stich lassen!"
Tatsächlich erschien plötzlich ein Schlitten über den Baumwipfeln, der von Rentieren gezogen wurde. Sie flogen eine leichte Kurve und landeten elegant und ohne Holpern auf dem Waldweg. Als sie zum Stehen kamen, stürmte der Weihnachtsmann sogleich freudig auf sie zu, bevor er sich besann, dass solch ungestümes Verhalten einem Weihnachtsmann nicht ziemte, und er seine Schritte mäßigte.
„Wir haben uns entschlossen, erst nach Weihnachten zu streiken." sagte das vorderste Rentier. Die anderen nickten mit ihren Köpfen, wobei die Glöckchen an ihrem Geschirr im Rhythmus zu läuten begannen. „Aber nur unter einer Bedingung." fuhr das vorderste Rentier fort. Wieder nickten die anderen mit ihren Köpfen, worauf die Glöckchen erneut erklangen. „Du musst den Menschen sagen, dass sie sich im nächsten Jahr weniger Geschenke wünschen sollen. Wir sind schließlich keine Packesel, sondern Rentiere. Wenn jeder nur ein Geschenk erhält, dann schaffen wir es mit Leichtigkeit, den Schlitten zu ziehen, und die Arbeit ist uns ein Vergnügen." Glücklich lächelnd bedankte sich der Weihnachtsmann dafür, dass die Rentiere den Streik verschoben hatten. Er versprach ihnen, den Menschen ihre Bitte auszurichten.
„Bis übermorgen!" sagte der Weihnachtsmann schließlich, nachdem er seinen Sack auf dem Rentierschlitten verstaut hatte, und reichte mir zum Abschied die Hand. Dann setzten sich die Tiere in Bewegung. Nach ein paar Schritten hoben sie leichtfüßig vom Waldweg ab, um mit einer Kurve wieder über den rauschenden Baumwipfeln zu verschwinden. Kurz darauf war auch der Hall ihrer Glöckchen verklungen. Daher wand ich mich nun wieder meinem ursprünglichen Vorhaben zu und schlug uns den schönsten Weihnachtsbaum, den ich im Wald finden konnte. Weil ich jedoch fürchte, dass der Weihnachtsmann vor lauter Arbeit vergessen könnte, euch die Bitte der Rentiere auszurichten, habe ich diese Begebenheit aufgeschrieben.

Der Oderland Spiegel, 21.12. 2003, S. 6
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