Willkommen in der Hölle (Piotr Bednarski: Blauer Schnee, Ullstein, Berlin, 2006, S. 159) „Nach langen Bemühungen habe ich die Erlaubnis bekommen. Wir werden der Armee nachreisen. Denk daran, ich bin jetzt Deine Mutter, und Du heißt Bednarski. Mein Sohn hatte denselben Vornamen wie Du. Gott hilft denen, die sich selbst helfen.“ - So überraschend und unglaublich, wie Piotr Bednarskis Roman über die Erfahrungen eines halbwüchsigen Jungen in einem sowjetischen Gulag während des Zweiten Weltkrieges endet, so unglaublich und immer wieder überraschend wendet sich auch die Handlung innerhalb der 18 ebenso kurzweiligen wie nachdenklich machenden Kapitel. |
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Sie sind allesamt Verbannte unter Stalin. Da spielt es kaum eine Rolle, ob man ein Kind, ein Erwachsener, ein Aufseher, Spitzel oder Bespitzelter, Denunziant oder Denunzierter ist. „Hier leben wir in der Hölle, mein Sohn. Und in der Hölle geht es selbst den Teufeln schlecht, sehr schlecht.“ fasst Piotrs Mutter – eine Schönheit dem Namen und auch dem Aussehen nach - das Leben in Sibirien treffend zusammen. Auch die vermeintlich moralisch überlegen Verbannten enden leer, schuldbeladen und voller Selbstekel, denn zum Überlebenskampf im Gulag gehört es, dass man viele seiner moralischen Werte aufgeben muss. Andere Werte verschwinden auf eher menschlichen Wegen. So wird die gestohlene Bibel für Piotr und seine Mutter zu einer fast traumatischen Verlusterfahrung, da mit ihr auch ein großer Teil Orientierung, religiöse Bildung sowie der Glaube an die eigene Einmaligkeit und moralische Überlegenheit über die Unterdrücker verloren geht. Dennoch bewahrt sich Schönheit ihren Lebensmut und ein Maß an Eleganz und Manieren, das ihr alle Herzen zufliegen lässt. Als tatsächlicher Traum aller Männer und Grand Dame der Gesellschaft verkörpert sie im Sibirien der Kriegsjahre ein Stück „altes Europa“ wenn nicht gar ein Stück idealisiertes Polentum. Das erinnert stark an die Bedeutung des Französischen und der französischen Lebenskultur für die polnische Gesellschaft in Antoni Liberas „Madame“ (DTV, 2000). Obwohl auch der Lageroberste Schönheit Avancen macht und diese auf das Angebot eingehen könnte, um mit Hilfe dieser Affäre ihr Fortleben zu sichern, verschenkt sie ihr Herz, wie es ihr beliebt. In einem unprätentiösen Erzählstil schildert Bednarski sowohl die Liebesgeschichten von Schönheit mit dem „Heiligen Narren“ Pachomjusch oder einem verletzten Piloten, sowie die Verliebtheit des jungen Erzählers in ein Mädchen aus dessen Schule. Aber auch die schlichten Worte über altbekannte Sehnsucht, Befriedigung, Enttäuschung sowie Erkenntnis in einer Zeit, die für solche Gefühle kaum gemacht aber nur mit ihrer Hilfe aushaltbar scheint, lassen das im Hintergrund lauernde Unheil nie vergessen,. Die Verehrer der Mutter werden schnell zu Freunden Piotrs, auch zum Vaterersatz. Doch die Bekanntschaft wehrt meist nicht lange. Der invalide Flieger wird ermordet und damit zum ersten bewusst erlebten, menschlichen Verlust für den Jungen. Der großherzige, aber naiv- kindliche Pachomjusch durchschaut in seiner heiligen Einfalt die Dinge auf verrückteste Weise. Mit ihm erlebt Piotr für kurze Zeit das Glück eine „richtige“ Familie zu haben, doch Pachomjusch verlässt die beiden schließlich, weil er sie und sich selbst durch diese Beziehung in Gefahr bringt. Das Merkmal „Schönheit“ und die damit verbundene Anbetung durch Männer wie den Lagerobersten garantiert zwar in gewissem Maße das Überleben in dieser Zeit, stellt jedoch auch eine Gefahr dar. Deutlich wird diese Tatsache ebenfalls bei der wundersamen Rückkehr des leiblichen Vaters aus dem Arbeitslager, der in Eifersucht mit einem Sekretär Streit anfängt, welcher für ihn erneut in einem Arbeitslager und damit tödlich endet. Generell kann man sich auf die Anwesenheit oder Abwesenheit von Personen in dieser Zeit kaum verlassen. Die Großmutter, die eines Tages losgegangen war, um Großvaters Grab zu suchen, kehrt plötzlich zurück. Besonders hier wird deutlich, dass der Autor kaum Erklärungen liefert. Es gibt keine ausufernden Schilderungen, sondern der Leser muss sich über alles, was geschieht, seine eigene Meinung bilden. Selbst als die Großmutter schizophren wird (vielleicht war sie es auch schon immer), scheint sie als psychisch Kranke ähnlich dem Pachomjusch noch ein wissender, alles durchschauender Mensch zu sein. Durch die Beschreibung ihrer Handlungen auf eine nicht wertende, nüchterne Art ruft der Autor Bewunderung für sie hervor. Ihre vermeintlich verrückten Reden gegen Stalin und die Bolschewisten werden zum Glück nur von denen verstanden, die auch Polnisch oder Französisch sprechen. In solchen Momenten lädt die Absurdität der ganzen Situation den Leser durchaus zum Schmunzeln ein. Dennoch verspürt man bei der Lektüre des schmalen Bändchens gleich dem kleinen Piotr ständig Angst um die handelnden Personen – zu Recht, wie es sich auch in diesem Fall herausstellt. „Blauer Schnee“ schildert das Überleben als nur möglich durch die Liebe und den Anschluss an andere Menschen. Ohne diese Möglichkeiten werden die Menschen von Verzweiflung übermannt, wie man am Selbstmord des einsamen Jägers Wanja erkennt. Auf der anderen Seite jedoch bedeutet Gemeinschaft auch immer Gefahr, welche selbst von der eigenen Ehefrau ausgehen kann. (Orwell lässt grüßen!) So muss selbst ein Angehöriger der Lagerleitung erkennen, dass es „doch nur eine Frage der Zeit“ ist, bis seine Frau ihn denunziert, denn „sie ist ja Kommunistin. Sie ist imstande, ihr eigenes Kind zu denunzieren, warum also nicht ihren Mann? Ich kenne diese Menschen. Ich bin einer von ihnen.“ Dass jemand in dieser furchtbaren Welt, in der es nicht nur wettertechnisch so kalt wird, dass der Schnee blau aussieht, überlebt, grenzt bereits an ein Wunder. Dass es ihm gelingt, sie zu verlassen, IST ein Wunder. Und, dass ein Mensch in so poetischer, absolut nicht anklagender Art und Weise autobiographisch über die Zeit des Schreckens schreiben kann, ist bewundernswert! Es mag an der Liebe für die Menschen liegen, die seine Kindheit geteilt haben, und an der kindlichen Unschuld, die sich der 1934 geborene Autor im Laufe seines Lebens bewahrt hat. Da zweifelt man als Leser nicht daran, dass die im Klappentext erwähnten „zahlreichen Literaturpreise“, mit denen er für seine Romane, Novellen und Gedichte ausgezeichnet wurde, absolut verdient waren. |
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