Zwischen den Welten

(Hilbk, Merle: Sibirski Punk. Eine Reise in das Herz des wilden Ostens, Aufbau, 2008, ISBN: 3-7466-2439-8)

Von einem "Roadmovie aus dem wilden Osten" - so die Ankündigung auf dem Buchrücken - erwartet man, dass sich jemand in ein Auto setzt und damit sowohl nach als auch durch den wilden Osten fährt. Doch bereits die Tatsachen, dass ein relativ komfortabler Flug Merle Hilbk nach Sibirien bringt, wo sie zudem die erste Hälfte der Beschreibung ihrer Suche nach der russischen Seele, welche sich jedoch vielmehr als Suche nach sich selbst herausstellt, als Gast des erfolgreichen Geschäftsmannes Grigorij verbringt, machen recht schnell deutlich, dass es sich hier um ein eher punktuelles Eintauchen in die russische Gesellschaft denn um eine Reise durch ein Land handelt.

Doch das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Mit sensibel gewählten Worten schildert die Autorin die Menschen, zu denen sie Kontakt aufbaut, plaudert von deren ungewöhnlichen bis absurden Lebensgeschichten und spinnt den roten Faden durch ihren Sommer in Russland. Neben Ausflügen in die nähere und fernere Umgebung des Städtchens Akademgorodok spielt der zweite Teil nach einer Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn in Ulan-Uhde, einer Stadt am Baikalsee. In Akademgorodok wie auch in Ulan-Uhde ist die Journalistin auf der Suche nach interessanten Menschen und ihren Geschichten, die sie dem Leser mit Hilfe ihrer sehr direkten und persönlichen Erzählweise so nahe bringt, dass man am Ende fast glaubt, man kenne die Baikal-Amazonen, den mürrischen Grigorij oder den Sänger der Punkband "Orgasmus Nostradamus" persönlich.

Ihnen allen ist eigen, dass sie ihr Schicksal auf bewundernswerte Art selbst in die Hand genommen haben, um trotz aller Ergebenheit in ein oftmals nur im Rausch erträgliches Leben das Beste daraus zu machen. Sie schreibt von angesehenen Professoren, deren Leistungen nach dem Zerfall der UdSSR vergessen worden sind, von Menschen, die zwar ihr Erspartes, nicht jedoch ihren Lebensmut und die Lebensfreude in einer Bankenkrise verloren haben, aber auch von den Gewinnern der wirtschaftlichen Entwicklung in Russland, die täglich für ihr Geld arbeiten, jedoch statt mit mehreren Familien in einer großen Wohnung (Kommunalka) zu leben, eigene Häuser besitzen sowie alle Annehmlichkeiten der westlichen Welt bis hin zum täglichen Schwelgen in Champagner und Kaviar genießen. Stolz sind sie allesamt, gastfreundlich, offen und sehr darauf bedacht, dass Ausländer neben aller Nostalgie auch den Fortschritt im Land zu würdigen wissen.

Dabei findet sich die Autorin in Ortschaften wieder, die ihre durch Bauweise und fortschreitenden Verfall geprägte sozialistische Vergangenheit nicht verleugnen können, aber auf der anderen Seite bereits so von den Neuerungen der westlichen Welt wie Internetcafés (Computerclubs), Supermärkten mit europäischen Marken oder Häusern in westeuropäischen Baustilen durchdrungen sind, dass sie eine extrem widersprüchliche Welt bilden. Häufig sind die Gegensätze zwischen Alt und Neu sowie Arm und Reich nur schwer zu ertragen - am besten unter Zuhilfenahme starkalkoholischer Getränke wie den unvermeidlichen Wodka. Doch nicht nur mit dessen Hilfe, sondern auch auf einem abenteuerlichen Betriebsausflug ins Altai-Gebirge lösen sich solche Gegensätze unvermittelt im Nichts auf; und dann findet Merle Hilbk, was sie die russische Seele nennt, und etwas, das ihr auch in anderen Momenten urplötzlich wieder begegnet: eine Stimmung aus Melancholie, Erinnerungsfluten, Wärme ...

"Mein Herz zieht sich zusammen vor Sehnsucht, und dann kommt plötzlich Sascha, stellt sich neben mich und deutet auf den Himmel. Ein helles Licht, heller als alle anderen Sterne, stürzt vom Himmel herab, fällt und fällt, bis es mit einem letzten Glimmen im See versinkt. Eine Sternschnuppe! 'Das heißt, du darfst dir was wünschen!' 'Hast du dir auch etwas gewünscht? 'Hab gerade vor mich hin geträumt.' 'Wovon?' 'Von einem anderen Land.' 'Was für einem Land?' 'In dem das Leben leichter ist.'"

Was ist nun dieses vorgebliche Roadmovie aus dem wilden Osten? Auf jeden Fall ein sehr unterhaltsames Buch, das mit einigen Vorurteilen aufräumt, andere bestätigt, interessante Einblicke in bizarre russische Verhältnisse gewährt und einen Aufenthalt schildert, der nicht immer leicht oder ungefährlich war.


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veröffentlicht auf buchwurm.info, 2008
Copyright © 2008 Corinna Hein