St. Petersburg (Russische Föderation)
Zahlreiche Erfahrungsberichte wurden bei Ciao bereits über St. Petersburg geschrieben, in denen man sich über Reisemöglichkeiten und Sehenswürdigkeiten informieren kann. Der überwiegende Teil bezieht sich dabei nur auf relativ kurze Aufenthalte. Meine Erfahrungen mit der Metropole am Finnischen Meerbusen stützen sich auf einen etwa viermonatigen Praktikumsaufenthalt von Ende August 2002 bis Mitte Dezember 2002, in denen ich sowohl den heißen Petersburger Sommer und den goldenen Herbst, als auch einen Vorgeschmack auf den bitterkalten Winter erleben konnte.
Von unschätzbarem Erfahrungswert war dabei meine Unterbringung bei einer russischen Gastfamilie mitten im historischen Zentrum auf der Wassilewskij-Insel. Ihre russische Offenheit, Gastfreundlichkeit und Neugier führten zu stundenlangen Plaudereien über Gott und die Welt in gemütlicher Küchenatmosphäre bei Tee und dem typisch russischen Konfekt, eingewickelt in schreiend buntes Papier. So manches Mal stellte ich nach einem Blick auf die Uhr plötzlich fest, dass ich mal wieder einige Sprints einlegen musste, um noch pünktlich zu meiner Arbeit zu kommen. Und so sprintete ich dann den langen Wohnungsflur aus der Zarenzeit hinunter, um meinen Rucksack zu schnappen, die Treppen zu Fuß zu bewältigen, da der Fahrstuhl selten funktionierte, und den „Mittleren Prospekt“ zur Metrostation Wassilewskiostrowskaja entlang zu hetzen. Am Straßenverkauf schnell noch eine Pirogge eingesteckt, die Fast-Food-Alternative zu McDonalds, Blinibude (die russische Varriante des Crepé) oder Puischki (eine Art fritierter Donut) mit sehr süßem, russischem Kaffee.
Die Metro ist das wahrscheinlich zuverlässigste Verkehrsmittel Petersburgs und zu den meisten Zeiten überfüllt wie Vilniusser Trolleybusse. Man kauft sich entweder einen Jeton für eine Fahrt, den man noch vor der Rolltreppe in den Untergrund in einen Automaten werfen muss, um die U-Bahn betreten zu können, oder eine Monatskarte. Eine Station und schon befand ich mich auf dem Newskij Prospekt, DER Straße von Petersburg schlechthin. Hier wälzen sich zu jeder Zeit nicht enden wollende Verkehrsströme an Fahrzeugen, Touristen und Einheimischen an Geschäften (nicht verpassen Gostini Dwor und Passage; liegen sich direkt gegenüber), kleinen Kirchen und restaurierten Häuserfassaden des 19. Jahrhunderts vorbei. An jeder Häuserecke trifft man dabei auf Sehenswürdigkeiten, denn die Innenstadt St. Petersburgs ist ein gigantisches Museeum, dessen auffälligstes Manko die Schmuddelecken hinter den restaurierten Fassaden sind.
Auch die zahlreichen Bettler, die den Newskij Prospekt säumen, sind ein sichtbarer Ausdruck der Realität im heutigen Russland – und das gleich im doppelten Sinne, denn die Mafia hält das „Geschäft mit dem Elend“ fest im Griff und steckt das meiste Geld aus den Plastikdöschen alter Omas, verkrüppelter Männer und musizierender Kinder in die eigenen Tasche (leider).
Natürlich sollte der gute Tourist wenigstens bis zur Antschikow Brücke den Newskij verfolgen und einen Blick auf die vier imposanten Pferdebändiger werfen, die die Brückenköpfe zieren. Man sagt, Peter der Große habe veranlaßt, dass die Pferdestatuen so hergestellt werden, dass die Gemächte der Hengste den Gesichtern von Personen nachempfunden sind, die seine Zarheit nicht mochte. Und tatsächlich glaubt man bei näherem Hinsehen Gesichter in ihnen zu erkennen. Die Petersburger erkennen zumindest den echten Touristen daran, dass er sich eingehend mit den hinteren unteren Pferdeteilen beschäftigt.
Wendet man sich von der Metrostation Gostinij Dwor in Richtung Admiralität kommt man an der im Gegensatz zu Sakralbauten wie der Isaaks Kathredrale klein anmutenden luteranischen Petrikirche vorbei. Sie wurde im Zuge der Einwanderung von Deutschen nach Petersburg unter Peter dem Großen erbaut und fungiert heute nach ihrer Restauration auch wieder als Kirche. Unübersehbar sind jedoch die Spuren, die der Kommunismus an ihr hinterlassen hat. Während der Sowjetzeit nutze man den Bau als Schwimmbad, was man im Inneren der Kirche noch erkennen kann. Direkt an sie angeschlossen befindet sich dahinter das „Deutsch-Russische Begegnungszentrum“, in dem ich vier Monate Deutschunterricht für Kinder und Erwachsene gab. Das Interesse an der deutschen Sprache und deutschem Brauchtum ist besonders bei Deutschrussen sehr groß, so dass schon Kinder ab vier Jahren die Sprachschule besuchen. Der große rote, etwas abgewrackte Bau hinter der Petrikirche ist die Petrischule, die diesen Namen seit einigen Jahr auch wieder tragen darf. Vor dem Krieg war sie eine Geistesschmiede in der führende Wissenschaftler Russlands ihr Basiswissen erlangten.
Von dort aus ist es nicht weit bis zu Puschkins Wohnung oder dem Café in dem Puschkin seinen letzten Tropfen trank, bevor er sich zu seinem Duell mit Dantes aufmachte. Wer die Geschichte des Duells und den letzten Stunden vor Puschkins Tod so herzergreifend geschildert hören will, dass man sich die Tränen wegdrücken muss, dem sei eine Führung in Puschkins Wohnung empfohlen. Von dort aus eine kleine Kanalbrücke überquert und in Richtung Newa gegangen, steht man schon vor der Ermitage. Den Schloßplatz habe ich nie in seiner ursprünglichen Weite sehen können, da riesige Berge von Steinen und Sand darauf lagerten und auch bei Minustemperaturen an der Erneuerung des Pflasters gearbeitet wurde. Die Fülle der Ausstellungsstücke in der Ermitage ist überwältigend. Deswegen empfiehlt es sich, vorher festzulegen, welche Kunstwerke man gesehen haben möchte und diese dann gezielt aufzusuchen – am besten mit einer russischen Begleitperson, die sich dort auskennt. Ansonsten kann man auch einfach einen Spaziergang in eine beliebige Richtung machen und irgendwann damit beginnen zu versuchen, den Rückweg zur Garderobe zu finden.
Unweit der Ermitage, das Newaufer hinunter befindet sich die Admiralität und die Isaakskathedrale, von deren Kuppel man einen der schönsten Ausblicke über St. Petersburg hat. Dafür muss man jedoch einige Treppenstufen erklimmen. Aber es lohnt sich wirklich. Sind die Bäume bereits erkahlt, kann man von dort auch den Ehernen Reiter erblicken – ein Reiterbild Peters des Großen, welches Katharina die Große dereinst gestiftete hat. Heute ist es ein MUSS für alle Frischvermählten, sich nach der Hochzeit vor dem Ehernen Reiter ablichten zu lassen. Daher findet man dort meist auch immer einige Hochzeitsgesellschaften, denn geheiratet wird in Petersburg anscheinend ständig. Das gute russische Ehepaar begibt sich danach weiter über die Palastbrücke auf die andere Seite der Newa zur Spitze der Wassilewskij Insel. An dieser Stelle, die man Strelka nennt, werden mehrere Flaschen Sekt geköpft und auf das Hochzeitspaar angestoßen. Die Peter-Paul-Festung sieht dabei von der anderen Seite aus zu, und läßt zur Mittagszeit einen Salutschuß erklingen.
Petersburg selbst hat noch so viel mehr zu bieten (Sehenswürdigkeiten, Restaurants, Bars, Theater, Konzerte etc.), dass nicht umsonst dicke Bücher darüber geschrieben werden mussten. Ich möchte jedoch noch darauf eingehen, dass man von dort aus einige sehr schöne Zarenpaläste im Petersburger Umland ansteuern kann. Die Elektritschka bringt Touristen wie Einheimische in ca. 20 Minuten nach Zarskoje Selo zum Palast Katharinas der Großen oder in etwas mehr Zeit nach „Peterhof“ in den Sommersitz Peters des Großen oder nach Pawlowsk zum Sommersitz des Sohns von Katharina, die sich alle drei bereits allein für den Besuch der Parks lohnen.
Ich habe auch den eine Stunde entfernten Palast Oranienbaum besucht, der noch nicht restauriert ist. Der Garten ist hier herrlich verwildert und spricht besonders romantische Naturen und Leute mit Hunden an. Auf und unter dicken Eichen und anderen Laubbäumen spielen Kinder der umliegenden Häuser, und es ist durchaus möglich hinter dem einen oder anderen Busch am See auf sich küssende Liebespärchen zu treffen.
Wem das zu viel Natur ist, der kann sich entschließen, die Elektritschka nach Repino zu nehmen, um sich dort das Haus des berühmten russischen Malers Repin anzusehen. Seine Werke hängen heute in Petersburg im Russischen Museum, aber dem Maler selbst am nächsten fühlt man sich besonders in seinem Atelier unter dem Dach seines Hauses in Repino. Das Haus wurde von ihm selbst nach eigenen Plänen errichtet und ganz seinen Bedürfnissen entsprechen gebaut. Im Garten hinter dem Haus ist Repin dann auch tatsächlich begraben. Ein schlichtes orthodoxes Kreuz weist auf das Grab hin. Als ich dort vorüberging, stand ehrfürchtig schweigend ein Pärchen davor, das eine Rose niedergelegt hatte.
Alles in allem sind mir Petersburg und vor allem seine Bewohner sehr sympathisch. Personen, die ich kaum kannte, stopften mich mit Piroggen voll, luden mich in Bars und Clubs ein oder boten sich an, mich auf Ausflügen zu begleiten. Viele davon wurden mir zu guten Freunden. Mit einigen bin ich heute noch in engem Kontakt. Sie halfen mir über die Tatsache hinweg, dass man sich als Ausländer in Russland gelegentlich wie eine zu melkende Kuh vorkommt. Ein Beispiel: Bezahlt ein russischer Student für ein Museum 10 Rubel, darf der ausländische Student 120 löhnen. Ausländische Nichtstudenten noch mehr. Bedenkt man zwar, dass 1 Euro ca. 34 Rubel sind, erscheint der Preis verglichen mit deutschen Eintrittspreisen immer noch moderat, aber es summiert sich bei einem längeren Aufenthalt doch, da Petersburg an jeder Ecke Sehenswürdigkeiten hat. Da ist es am besten, man hält seinen deutschen Mund und gibt sich in Begleitung eines Russen oder einer Russin als deren schweigsamer russischer Freund/ russische Freundin aus. Oder man besorgt sich einen russischen Studentenausweis über dubiose Kreise, doch dafür reichte meine kriminelle Energie nicht.
Mein Fazit ist also: Ab nach Petersburg! Man sollte jede sich bietende Chance ergreifen, diese Stadt, die überall den Atem der Kultur und Geschichte der letzen 200 Jahre atmet, zu besuchen.
 
  veröffentlicht auf ciao.com, 2004
Copyright © 2004 Corinna Hein