Mehr als ein guter Krimi

(Mark Haddon: Supergute Tage, Goldmann, 2003, S. 283, 8,95 Euro)

„Dies ist ein Kriminalroman, in dem ein Mord passiert.“ erfährt man vom mathematisch-physikalisch hochbegabten Christopher Boone, der seinen ersten Roman schreibt, während er detektivisch zu ergründen versucht, wer den Pudel seiner Nachbarin umgebracht haben könnte. Besagter Hund liegt eines Nachts von einer Mistgabel durchbohrt im Garten. Der Verdacht fällt zunächst auf Christopher selbst. Doch gleich dem analytisch arbeitenden Sherlock Holmes in Christophers Lieblingskrimi „Der Hund der Baskervilles“ beginnt dieser eine systematische Befragung. Er deduziert mögliche Verdächtige, erkennt und verwirft Motive, schlägt sich mit seinem überbesorgten Vater herum und muss schließlich herausfinden, dass der Mord am Pudel Wellington aufs Engste mit seinem eigenen Leben verknüpft ist.

Ein Mord, Verdächtige, ein Detektiv – eigentlich ein ganz normaler Kriminalroman könnte man also meinen, wäre da nicht der leichte Autismus des 15jährigen Erzählers, der sich darin äußert, dass Christopher keine emotionalen Reize wie Mimik oder Gestik wahrnehmen kann. Zu viele gleichzeitig auf ihn einstürmende Umwelteinflüsse verstören ihn so sehr, dass er sich völlig in seine Welt zurückzieht und alles um ihn herum ausblendet. Er denkt in mathematisch logischen Strukturen und schafft sich mit Zahlen, Tabellen und Naturgesetzten eine geordnete Welt, in der er sich sicher bewegen kann. Leider verhält sich seine Umwelt oft missverständlich, da das Leben der meisten Menschen durch Emotionalität viel komplexer gestaltet und eher der ihm unliebsamen Metapher als einem einfacher zu verstehenden Vergleich näher ist. Auch sprachlich wünscht er sich präzisiere Formulierungen, denn Abstrahierungen wie Umgangssprache oder gar Ironie versteht er nicht.

Der Autor Mark Haddon lässt den Leser teilhaben an den überraschend klugen sowie in ihrer Einfachheit durchaus poetischen Gedankengängen seines Helden. So stellt sich zum Beispiel für Christopher die Frage, was nach dem Tod eines Menschen mit diesem geschehen könnte. „Ich weiß nicht, was mit der Asche [meiner Mutter] passiert ist, (...). Aber der Rauch steigt aus dem Schornstein in die Luft, und manchmal schaue ich in den Himmel hinauf und denke, dass da oben oder in den Wolken über Afrika oder der Antarktis Moleküle von Mutter herumfliegen oder dass sie als Regen über den Regenwäldern Brasiliens niedergehen, oder irgendwo als Schnee.“ Solchermaßen ängstigt ihn der Gedanke an den Tod selbst ohne das Verständnis für die seelsorgerische Arbeit des örtlichen Reverend nicht.

Sympathisch spleenig erscheint auch Christophers Methode zur Klassifizierung von guten oder schlechten Tagen anhand seiner Lieblingsfarbe. Je mehr rote Autos er an einem Tag auf dem Weg zur Schule sieht, desto besser muss der Tag werden. Fünf rote Autos hintereinander bedeuten sogar einen „superguten“ Tag. Diesen benötigt er auch, als er das Rätsel um Wellingtons Tod löst und damit aus seinem vom Vater und der Schule behüteten sowie durch Lügen künstlich problemlos gehaltenen Leben herauskatapultiert wird. Nun kann er über sich hinauswachsen und trotz seiner Behinderung zeigen, dass er in der Lage ist, Forderungen zu stellen und Ideen notfalls ohne Hilfe in die Tat umzusetzen. Damit zeigt der Autor, dass in jedem Menschen das Potenzial steckt, auf seine persönliche Art mit Problemen und Möglichkeiten der Existenz umzugehen, wenn man ihm die Chance dazu lässt und nicht von vornherein glaubt, besser zu wissen, was gut für diejenige Person ist.

Mark Haddon hat sich bisher einen Namen mit Kinderbüchern gemacht und mehrere Preise in dieser Kategorie gewonnen. Mit der Goldmann-Ausgabe vom Dezember 2005 liegt sein bisher in 24 Sprachen übersetzter Roman „The Curious Incident of the Dog in the Night-Times“ (Orig.) in einer preiswerten deutschsprachigen Taschenausgabe vor, so dass es nun wirklich keine Entschuldigung mehr dafür gibt, diese witzige, warmherzig geschriebene Episode aus der gar nicht so „sonderbaren Welt des Christopher Boone“ nicht gelesen zu haben. Zumal sich dessen autistische Ticks konsequent auch in der formalen Gestaltung des Romans wieder finden lassen. So sind die Kapitel in der Reihenfolge von Primzahlen angeordnet. Komplizierte Überlegungen werden für die naturwissenschaftlich weniger begabten Leser anhand von Schemata verdeutlicht und die Lösung einer Mathe-Abitur-Frage freundlicherweise in den Anhang verbannt. Alles in allem ein kurzweiliges Stück norwegischer Literatur, das es in seinem Mutterland sogar schon zu einer Hörspielversion gebracht hat, die 2003 frühmorgendlich im Radioprogramm ausgestrahlt wurde.


veröffentlicht auf literaturreport 2006 veröffentlicht auf ciao.com, 2006
Copyright © 2006 Corinna Hein