Vilnius (Litauen) | ||||||
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Jedem, der nach Vilnius kommt, wird es sofort ins Auge fallen: Dies ist eine Stadt der Gegensätze. Außerhalb des Zentrums drängt sich das Erbe des Sozialismus in Form grauer, abgewrackter Plattenbauten neben einzelne nicht minder baufällig aussehende Holzbauernhäuser, vor denen gelegentlich ein paar Hühner scharren. Im Stadtzentrum hingegen findet man nicht nur das bemerkenswerte gotische Ensemble rund um die Annenkirche, sondern auch die vornehmen größtenteils restaurierten Bürgerhäuser in der Pilies, der Didžioji und Aušros Vartu gatve (gatve bedeutet Straße). Auf Vilnius' Straßen werden schwankende von Rostlöchern durchbrochene Trolleybusse (eine nicht-ermäßigte Fahrt kostet 0,8 Litas; ca. 0,2 Euro) und ebensolche Automobile steinzeitlichen Fabrikats von modernen und modernsten Autos westlicher Herkunft in gewagten Überholmanövern umkurvt. Mannequinhaft aufgetakelte Litauerinnen stelzen selbst Winters (bei erheblichen Minusgraden) minirockbekleidet auf 8-cm-Hacken über Kopfsteinpflaster und brüchige Gehwegplatten, während auf den reichlich vorhandenen Parkbänken Alkoholiker ihren Rausch ausschlafen. Vor den zahlreich Kirchen und Kirchlein strecken sich den Besuchern bittend die zittrigen Hände derer entgegen, deren magere Rente nicht zum Überleben ausreicht, während die Schaufenster in der Hauptstraße mit bunten Auslagen und Rabatten bis zu 75% um Kundschaft werben. So widersprüchlich ist Vilnius und zugleich so liebenswert. Schlägt man vom Kathedralenplatz aus den Weg in die Pilies ein, führt der Weg vorbei an kleinen Ständen mit Souvenirs (Keramik, Krimskrams und Wollsocken), vorbei an preiswerten Restaurants litauischer, italienischer und anderer Küchen bis zur rückwärtigen Front der Johanneskirche. Dort verkauft eine rundliche Oma leckere Quarkbällchen für 1 Litas (stand Frühjahr 2002), und dort steht an den meisten Tagen im Jahr auch der Maler Aleksandras Gorlanovas und bietet seine Zeichnungen von Vilnius bekanntesten Straßen und touristischen Attraktionen zum Verkauf an. Wer etwas länger stehen bleibt und sich auf eine offenherzige Plauderei einläßt, erfährt in einem litauisch-russisch-deutschen Sprachmix unter anderem, daß des Malers Leidenschaft eigentlich abstrakte Ölgemälde sind und, daß man unbedingt seine Heimatstadt Kaunas besuchen müsse. Hat man genügend solche “Straßengespräche” geführt, bekommt man den Eindruck, daß fast jeder Litauer den einen oder anderen deutschen Vorfahren in der Ahnengalerie vorzuweisen hat. Geschichtlich ist das nicht unwahrscheinlich, gehörte doch ein beträchtlicher Teil Litauens lange Zeit zu Preußen, bzw. dem Deutschen Reich. Vielleicht liegt es an der bewegten litauischen Geschichte, daß die Litauer von sich selbst behaupten, sie seien “ein bißchen wild”. Die baltischen Stämme, die im 3. Jh. n.Chr. Im Bereich des heutigen Litauen siedelten, mußten seit den Anfängen ihrer Missionierung im 13. Jh. beständig um einen freien, unabhängigen Staat und später auch um ihre nationale Identität kämpfen, denn Litauen war bis zu seiner Abspaltung von den Sowjetrepubliken (1991) fast immer von anderen Mächten besetzt – vom Deutschen Ritterorden, den Polen, den Russen oder den Deutschen. Somit verwundert es nicht, wenn die Litauer ein Völkchen mit besonders starkem Nationalstolz geworden sind. Hinter der Johanneskirche befindet sich einer von 14 Innehöfen der Vilniaus Universitetas, in dem auch die Mensa situiert ist, die von den Studenten und anderen Universitätsangehörigen nur “Leichenhalle” genant wird. Und eben das war sie einst. Trotzdem läßt man sich hier Blinis, Koldunai (gefüllte Teigtaschen), Suppen und Salate schmecken. Wunderschön sind die Wand- und Deckenbemalungen im Litera-Universitätsbuchladen und in der baltischen Fakultät. Allerdings ist ein ausgedehnterer Universitätsbesuch nur mit Hilfe einer Führung zu bewältigen. Zu verwinkelt und verworren sind die Gebäude und Gänge der im 16. Jh. gegründeten Uni, als daß man sich allein zurechtfinden könne. Auch in der Universität begegnet man Menschen, die auf besondere Weise mit dem Schicksal Litauens verbunden sind. Man nehme nur die kleine, rundliche und stets freundliche Professorin für kanadische Literatur, die es in den Wirren des 2. Weltkriegs aus Litauen über Deutschland, England und Amerika nach Kanada verschlagen hatte. Nach ihrer Rückkehr Anfang der 90er Jahre richtete sie in ihrem Elternhaus in Vilnius eine sich aus Geld- und Sachspenden finanzierende Kinderbibliothek ein, weil seit der politischen Wende in Litauen derer dort immer weniger werden. Die Kultur kann sich in Vilnius allerdings nicht beklagen. Die mit knapp 600.000 Einwohnern recht kleine Hauptstadt verfügt über eine Philharmonie, mehrere Theater und Oper mit moderaten Eintrittspreisen. Zudem kann es schon einmal vorkommen, daß zum Beispiel ein Opernspektakel kostenlos auf dem Kathedralenplatz aufgeführt wird. Vilnius erstaunt den Besucher immer wieder. Wer würde sich zum Beispiel denken, daß sich in einem der heruntergekommensten Stadtteile (Uzupis) mit einer von Häuserruinen gesäumten unbefestigten Straße einer der romantischsten Friedhöfe Europas befindet? Vom Bernadio kapines blicken tief ergraute Steinengel sinnend von dicht gedrängten Gräbern aus dem 18./19. Jh. den Berg hinunter über die Wilna und Vilnius und das “Engels-Ei”. Letzteres sollte ursprünglich eine Engelsstatue werden. In Ermangelung des Künstlerhonorars, blieb es jedoch bei einem in Eiform grob vorgehauenen weißen Stein auf einer Säule. Aber die Stadt bietet noch mehr – noch mehr herzliche Menschen (ausgenommen Kellner), noch mehr Kurioses wie das welteinzige (soweit mir bekannt) Denkmal für Frank Zappa oder 12-stündige Konzerte in der Philharmonie, noch mehr Souvenirmärkte, viele kleine aber interessante Museen (unbedingt ansehen: das “Museum der Opfer des Genozids” - im Volksmund nur KGB-Museum genannt - in der Auku gatve!), Restaurants und Cafes, die es sich zu kennen und auszuprobieren lohnt, sowie Kinos, in denen Filme generell im Original mit Untertiteln laufen (Kinokarte 6 Litas; 1,5 Euro). Vilnius bietet sich ebenso als Ausgangspunkt für Ausflüge an. Um sicherzugehen, daß man auch am gewünschten Ziel ankommt, verläßt man sich am besten auf das zweimonatig erscheinende am Kiosk erhältliche Heft “Vilnius in Your Pocket”. In ihm kann man alles Wissenswerte zu Stadt und Umgebung nachlesen. Mit Pockets Hilfe findet man beispielsweise den Weg zu einem Findling, der die geographische Mitte Europas kennzeichnen soll – so fern man nicht kurz vor dem Ziel doch noch die falsche Richtung einschlägt und am Gedenkstein für die Landwirtschaftsreform 2000 ankommt. Bis 2003 wies lediglich eine Metalltafel darauf hin, daß man die Mitte Europas gefunden hatte. Sah man keine Tafel, dann wurde sie wohl vor Kurzem erst wieder geklaut. Im Zuge der EU-Osterweiterung allerdings hat dieser heimelige Ort, dem man sich bis dato nur mit viel Lärm und Getöse nähern konnte, damit man den dort parkenden einheimischen Pärchen genügend Zeit zum geordneten Rückzug ließ, eine wunderbare Verwandlung erfahren. Ein Informationshäuschen informiert über Litauen und dessen geographische Mitte (von denen es in ganz Europa ungefähr 40 geben soll). Die einstige Wiese ist einem roten Pflaster gewichen und Fahnenstangen erheben sich hoch über den Findling. Wer schon immer gern zwischen monströsen Kunstobjekten und Bäumen wandeln wollte, dem empfiehlt sich ein Besuch im Europos Parkas. Ist die Straße dorthin auch alt und löchrig, so locken doch einmalige Installationen wie ein Labyrinth aus Fernsehern mit einer verfallenen Leninstatue, ein Blechhaus mit beweglichem und unglaublich krachschlagendem Fußboden für kleine und große Kinder, ein überdimensionaler Stuhl-Pool und noch viele weitere unerklärliche Phänomene der Kunst. Ein Miniautobus bringt den interessierten Besucher in 20 Minuten von Vilnius nach Trakai. Der zwischen drei Seen gelegene Ort war einst die Hauptstadt Litauens. Die gothische Burg aus dem 14. Jh. auf der Schloßinsel inmitten des Galve-Sees ist heute komplett restauriert und ein Nationalheiligtum der Litauer, zu dem hin die Pilgerströme nie abreißen. Nur einen Steinwurf vom Inselschloß entfernt befindet sich die Ruine eines weiteren Palastes, die man in ihrem verfallenen Zustand gratis besuchen darf. Unterschlupf findet man in Vilnius am billigsten in Jugendherbergen (ab 24 Litas, ca. 6 Euro). Doch sind diese, was die Hygiene angeht, nichts für schwache Nerven. Natürlich gibt es auch Hotels, deren Einrichtung, Service und Preis mit dem westeuropäischen Standard mithält. Genau gegenüber dem Museum für den polnischen Nationaldichter Mieckewicz in einer Nebenstraße der Pilies, liegt zum Beispiel das “Shakespeare Hotel”. Ab 360 Litas (ca. 80 Euro) ist man dabei. Verständnisschwierigkeiten braucht man in Litauen nicht zu fürchten. Die Leute erwärmen sich sofort und werden hilfsbereit, wenn man mit einigen litauischen Grundbegriffen seinen guten Willen zur Kommunikation in der lange verbotenen Landessprache beweist. Wenn es für mehr als “Guten Tag” (“Laba diena!”) und “Auf Wiedersehen!/ Alles Gute!” (“Viso gero!”) nicht ausreicht, dann kommt man fast überall mit Russisch weiter. Die Jugend spricht Englisch. Den Hungertod braucht man in Vilnius ebenso nicht zu befürchten. Supermärkte von “Minima” bis “Maxima” bieten bekannte westeuropäische Waren. Die Restaurants sind dicht gesät und preiswert. Man sollte unbedingt den Pub “Prie Universiteto” besuchen und dort die beste Pizza Vilnius' oder das fantastische Mamos Vištiena (Mamas Hühnchen) probieren. Für Vegetarier empfiehlt sich das Restaurant “Balti Dramblai” (“Weißer Elefant”), in dem sympathischer Weise zusätzlich noch Rauchverbot herrscht. Die Karten sind in den meisten Restaurants zweisprachig (litauisch/ englisch). |
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Fazit: Vilnius ist eine spannende, freundliche Hauptstadt eines touristisch noch weitgehend unentdeckten Landes, das sich europäisch und weltoffen gibt. Ein Besuch lohnt sich der Sehenswürdigkeiten wegen und, weil Ausländer dort noch willkommene Gäste und keine zu melkende Kühe sind. |
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