(Toutonghi, Pauls: Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war, Rowohlt, ISBN 3-87134-634-9)

Von großen und kleinen Umbrüchen

"'Die Geschichte von Yuri Balodis und seinem Vater, der eigentlich Country-Star war' ist ein Buch voller Geschichten und über Geschichte, meiner Meinung nach." - würde Rudolf Balodis vielleicht sagen, wenn man ihn bäte, die Handlung des überaus komplexen Romans von Pauls Toutonghi kurz zu umreißen. Vermutlich würde der dauerbetrunkene lettische Familienvater, der sich in Amerika seinen Traum vom Country-Star-Dasein erfüllen wollte und stattdessen Nachtwächter in einem Autohaus geworden ist, dabei ein Glas Bourbon in der Hand halten und von seinem Balkon aus auf das zehntärmste Wohnviertel Amerikas schauen, während seine Frau leise seufzend die Haare ihres Sohnes Yuri verwuschelt. Im Grunde ist Familie Balodis mit ihrem Leben jedoch ganz zufrieden, wäre da nicht das Entsetzen darüber, dass sich der Filius ausgerechnet einer sozialistischen Parteigruppe angeschlossen und sich Besuch aus der alten Heimat angesagt hat, was zusammengenommen sämtliche Wunden der Vergangenheit aufreißt.

Der amerikanische Autor Pauls Toutonghi mit lettischen und ägyptischen Wurzeln schildert, autobiografisch inspiriert, die Geschichte einer Familie in der Zeit des Umbruchs in den Jahren um 1989. Die Mauer in Deutschland ist gefallen. Die Sowjetunion bricht zusammen. In Milwaukee feiert Familie Balodis den Sieg über ein Machtsystem, welches den Großvater für zehn Jahre in einen Gulag verbannt hatte, der Yuris Vater folterte, verkrüppelte und ihm keine andere Wahl ließ, als Familie und Freunde mit seiner Frau auf einer abenteuerlichen und menschlich degradierenden Flucht für immer hinter sich zu lassen. Der Leser hat aufgrund der abgewrackten Existenz des Mannes den Eindruck, dass Yuris Vater trotz des kleinen Körnchens Wahrheit, das in den Geschichten verborgen sein mag, eigentlich nur ein liebenswerter Spinner ist. Erst auf den letzten Seiten offenbart der Autor die ganze Tragik der Geschichte und lässt den Leser betroffen und gleichzeitig gerührt zurück. So kauzig und tragikomisch die Helden dieses Romans aber sein mögen, Pauls Toutonghi beschreibt sie doch stets herzlich und voller Wärme, so dass man diese auch noch Tage nach der Lektüre vor dem geistigen Auge behält. Leider ist "Rudolf Balodis" längst gestorben, doch er wäre mit Sicherheit stolz auf seinen Sohn, der ihm und seiner Familie mit diesem Roman kritisch, aber voller Liebe ein Denkmal gesetzt hat.

Yuris Teenagerleben wird zunächst von diesem historischen Hintergrund wenig beeinflusst. Er kennt die Heimat seiner Eltern nur von Geschichten, die sein Vater manchmal wie Märchen erzählt. Die lettische Sprache und alle Erinnerungen haben die Balodis konsequent aus ihrem betont amerikanisch eingerichteten Leben verbannt. Yuri soll als ganz normaler amerikanischer Teenager aufwachsen. Doch durch seine Liebe zu Hannah, die mit ihrem Vater in einer sozialistischen Parteigruppe aktiv ist, stehen sich mit den beiden Familien plötzlich zwei grundverschiedene politische Ansichten gegenüber. Yuri ist zum ersten Mal gezwungen, sich über ein komplexes Thema eine eigene Meinung zu bilden, und zwischen dem Respekt für seine Familie und dem Unverständnis für ihre Ansichten hin- und hergerissen. Dazu kommen die verwirrenden Gefühle der ersten Liebe, die Yuri dazu verleiten, eine Straftat zu begehen, die zunächst ungesühnt bleibt, jedoch sein Gewissen belastet. Und als wäre alles noch nicht kompliziert genug, nistet sich plötzlich die Verwandtschaft in Gestalt von Onkel, Tante, Cousin sowie Großtante in der kleinen Dreizimmerwohnung mit ein und denkt scheinbar gar nicht daran, jemals wieder nach Lettland zurückzukehren.

Um diese chaotische Zeit überstehen zu können, um in ihr zu reifen und zu wachsen, wird es somit höchste Zeit für den jungen Bücherwurm, vom Leben selbst statt nur aus den Geschichten anderer zu lernen. Da sich die Erwartungen seiner Eltern an das Land der unbegrenzten Möglichkeiten für sie selbst nicht erfüllt haben, ist es nun erst recht an Yuri, die ihm gebotene Freiheit zur Entfaltung einer eigenen Persönlichkeit zu nutzen. Humorvoll (besonders in den Dialogen) sowie berührend, ohne rührselig zu wirken, erzählt Toutonghi seine melancholische Geschichte vom Scheitern des amerikanischen wie des sozialistischen Traums und doch von einem neuen Anfang im ausgehenden 20. Jahrhundert, in welchem jeder Mensch seinen ganz individuellen Weg finden und leben muss.


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veröffentlicht auf buchwurm.info, 2009
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